von Helmut Merschmann
1985 bildete sich das sowjetische Parallele Kino, damals noch
Cine Fantom, um die gleichnamige Filmzeitschrift und formierte
Filmemacher aus Leningrad und Moskau zu einer subkulturellen
Underground-Bewequng, die sich bis 1987 ihre Filme vorwiegend gegenseitig und
in Privatwohnungen vorführte. Den Underground-Status stärkte das
gemeinsame Thematisieren von gesellschaftlichen Tabus und die Situation,
für eine Subkultur anti-öffentliche Sujets (Ideologiekritik, Gewalt,
Homosexualität) zu produzieren. Der Höhepunkt dieser
künstlerischen Periode war das erste Cine Fantom-Festival
1987 in Moskau.
Im Zuge von Glasnost verschwanden, mit dem zunehmenden Diskutieren ehemals
verbotener Themen in öffentlichen Publikationen, für die Filmemacher
die Stoffe. Damit verloren sie ihre Underground-ldentität und mußten
sich umorientieren. Wichtig an dieser Entwicklung war auch das Festival in Riga
(Forum des unkommerziellen Kinos), das erstmalig für die nicht in
Institutionen organisierten Filmemacher einen Platz bot.
Der nunmehr Paralleles Kino genannte Zusammenschluß verstand sich
nicht mehr als gruppenaktives und themendeterminierendes
Kollektiv-Über-lch, vielmehr entwickelten sich die einzelnen Filmer
äußerst individuell weiter.
Seitdem ist viel geschehen. Die Brüder Igor und Gleb
Aleinikov produzierten an der Moskauer Filmhochschule VGIK und bei der
Debutabteilung des Experimentalfilmstudios der staatlichen Mosfilm (Jemand
war hier). Während ihre anfänglichen Arbeiten (Brutale
Krankheit der Männer, Metastasen, Traktora) von ironisierender
Kritik an gesellschaftlichen und staatlichen Zustanden und ihre theoretischen
Auseinandersetzungen vom sowjetischen Kino der zwanziger und dreißiger
Jahre geprägt waren, wollen sie heute bewußt auf diese direkten
Einflüsse verzichten.
Ein zentrales Anliegen ist ihnen der Zusammenhang Individuum-ldeologie, den sie
in Postpolitisches Kino thematisieren. Der Film stellt ein exponiertes
Stück Home-Art dar, ein Stil, der an verwackelte Super
8-Familienkinostreifen erinnert. Konsequenterweise zeigen sich die Regisseure
beim Urlaub an der Ostsee bei Leningrad und montieren Szenen aus der
sowjetischen Geschichte ein.
In vielen dieser älteren Filme wird Sprache ein eigenständiger, dem
Visuellen ebenbürtiger Bestandteil, indem sie als Insertion auftritt,
asynchron verwendet wird oder verschachtelt und simultan vom Signifikat
ablenkt.
Die neueren Arbeiten (Jemand war hier, Mirage) beschäftigen sich
mehr mit "filmischen" Aspekten. Ästhetik und Inhalt,
Schauspielführung, Erzählkonstruktionen, aber auch technische
Komponenten wie Kamera- und Lichfführung, Raumkomposition rücken ins
Zentrum der Arbeit. Explizit wenden sich die Brüder Aleinikov gegen
postmoderne Stilwillkür und versuchen genuine (sowjetische?) Stilmittel
für den Entwurf eines Films der neunziger Jahre zu entwickeln.
Der Videoregisseur Boris Juchananov arbeitet völlig anders. Einst
Regieassistent an einem Theater, leugnen seine Videofilme diese Herkunft nicht.
Er arbeitet mit diversen Moskauer Theatergruppen zusammen und inszeniert neben
seiner Videoarbeit auch noch Ballett. Zu seinem filmischen Konzept gehört
die assoziative Improvisation im Ensemble, die einzelnen Szenen werden
gemeinsam erschlossen und umgesetzt, wobei sich Inszenierung und Dokumentation
verschränken. Dadurch gewinnen seine Arbeiten eine reflektorische
Dimension, die auf die Entstehungssituation und das Zusammenspiel zwischen
Schauspieler und Kamera verweist. Seine Videotheorie (an der er z. Zt.
schreibt) umfaßt ein exzessives Sammeln von Material ("Matrix"), das er
für spezielle Vorführungen bzw. Videokopien individuell montiert
("Variation"). Keine Kopie gleicht der anderen. Daran geknüpft ist eine
Videophilosophie, die das Medium als linear und nicht diskret betrachtet. Mehr
als die Montage und strukturelle Komposition ist dabei der zeitliche Aspekt,
die Dauer bedeutungstragend. Boris Juchananov ist derzeit Leiter für
Regiearbeit an der von ihm mitgegründeten Freien Universität
Leningrad.
Andere Regisseure des Parallelen Kinos, wie z.B. die Leningrader
Nekrorealisten, können an dieser Stelle und im Festivalprogramm
keinen Platz finden. Es sei jedoch auf das 1991 stattfindende "3. Festival des
PARALLELEN KINOS" hingewiesen.
TRAKTORA
16 mm, 13:00, UdSSR 1987, von Igor und Gleb Aleinikov.
Im Jahre 1980 betrug die Stärke der sowjetischen Traktormotoren 497
Millionen PS. Wen wunderts, daß diese industrielle Errungenschaft
Anlaß größter Metaphorik ist. Der Traktor wird mit Erde
und Volk assoziiert. "Unter den Personen des weiblichen Geschlechts
kommt sogar der Mythos auf, daß Traktoristen eine ungewöhnliche
Potenz besitzen" (Filmtext). Was denken Traktoristinnen im Land der
funktionalen Emanzipation darüber?
JEMAND WAR HIER
35 mm, 42:00, UdSSR 1989, von Igor und Gleb Aleinikov.
Ein Mann kommt nach Hause, findet Fußspuren in seiner Wohnung vor und
einen geheimnisvollen Zettel: "lch warte um 15 Uhr im Peking." Wer ist
der mysteriöse Schreiber, wie ist er in die Wohnung gekommen und was will
er? Im Restaurant trifft der Mann niemanden an. Auf einer Serviette wird eine
neue Verabredung in der darauffolgenden Woche vorgeschlagen.
Für den Mann beginnt eine detektivische Spurensuche, die ihn in seine
Vergangenheit führt.
Für den Film beginnt eine strukturalistische Reflexion über
Spuren/Zeichen und ihre irreführende Referenz.
BRUTALE KRANKHEIT DER MÄNNER
16 mm, 12:00, UdSSR 1987, von Igor und Gleb Aleinikov.
Der Reigen von Technizität, Militarismus, Fortschrittsgläubigkeit und
Ideologie wird auf männliches Machtdenken zurückgeführt.
Malerisch verlassene Industrieästhetik symbolisiert Zivilisationsverfall
und Menschenverachtung. Ein naiver Beobachter, dem die "Bilder dieser Welt"
vorgeführt werden, fällt einem metaphorisch homosexuellen
Vergewaltigungsakt zum Opfer.
METASTASEN
16 mm, 16;30, UdSSR 1985, von Igor und Gleb Aleinikov.
Bearbeitetes Dokumentarmaterial aus Lehr-, Kultur- und Fernseh-Filmen zeigt
eine sowjetische Tradition, die des Zerfalls und der Ideologie im Alltag
entlarvt wird. Eine an Eisenstein erinnernde Montagetechnik konfrontiert die
Sequenzen mit einer Toncollage, die den kulturkritischen Tenor zur Persiflage
erhöhen.
POSTPOLITISCHES KINO
16 mm, 25:00, UdSSR 1988, von Igor und Gleb Aleinikov.
Der Film beschreibt die Reise der Filmemacher nach Leningrad. Während im
Ton Verbrauchsstatistiken und Kriegsberichte diktiert werden, blenden Inserts
ein: Wörter sind keine Wörter. Film ist kein Film. Die Aleinikovs als
Touristen bei einer Ruderpartie oder in den Straßen Leningrads vor
Eisensteins Haus.
VERRÜCKTER PRINZ FASSBINDER
VHS, 44:00, UdSSR 1989, von Boris Juchananov.
Rainer Werner Faßbinder ist erklärtes Idol des Schauspielers Evgenij
Cerba. In exaltierten Tönen monologisiert er über dessen Arbeitsgier
und Lebenswut. Andere Künstler des Moskauer Undergrounds berichten von
fiktiven Begegnungen mit dem Helden. Biographisches und Intimes vermengen sich
zu einem Informationsstakkato, das die Identifizierung, aber auch die
Vergeblichkeit, den Mythos nachleben zu wollen, spürbar macht.
Der improvisatorische Stil der Darstellung läßt das Medium Video
gerade für solche Sujets überlegen erscheinen. Neben der impliziten
Authentizität kann er den Kontext der sowjetischen Künstler
nachvollziehbar vermitteln.
FLÜGEL
VHS, 30:00, UdSSR 1989, von Boris Juchananov.
Mikhail Kusmins erster Roman Flügel von 1907 über die Liebe
des Gymnasiasten Wanja zum bürgerlichen Freigeist Stroop ist Vorlage
dieses Videofilms. Fragmentartig tauchen Züge der Geschichte auf:
Gespräche zwischen dem Jungen und dem Schriftsteller über Literatur.
Aus einem Fenster wird der im Schnee herumtobende nackte Junge gezeigt, der
Alterskonflikt und die Distanz des Schriftstellers zur Unschuld des Jungen
thematisiert. Die Schreibmaschine tippt: "Für die wahre Wahrnehmung des
Bildes muß man eine räumliche Distanz einnehmen."