(EMAF96)
EUROPEAN MEDIA ART FESTIVAL · 11-15 SEPTEMBER 1996 · OSNABRÜCK

Das sowjetische PARALLELE KINO

EMAF 1990


von Helmut Merschmann

1985 bildete sich das sowjetische Parallele Kino, damals noch Cine Fantom, um die gleichnamige Filmzeitschrift und formierte Filmemacher aus Leningrad und Moskau zu einer subkulturellen Underground-Bewequng, die sich bis 1987 ihre Filme vorwiegend gegenseitig und in Privatwohnungen vorführte. Den Underground-Status stärkte das gemeinsame Thematisieren von gesellschaftlichen Tabus und die Situation, für eine Subkultur anti-öffentliche Sujets (Ideologiekritik, Gewalt, Homosexualität) zu produzieren. Der Höhepunkt dieser künstlerischen Periode war das erste Cine Fantom-Festival 1987 in Moskau.

Im Zuge von Glasnost verschwanden, mit dem zunehmenden Diskutieren ehemals verbotener Themen in öffentlichen Publikationen, für die Filmemacher die Stoffe. Damit verloren sie ihre Underground-ldentität und mußten sich umorientieren. Wichtig an dieser Entwicklung war auch das Festival in Riga (Forum des unkommerziellen Kinos), das erstmalig für die nicht in Institutionen organisierten Filmemacher einen Platz bot.

Der nunmehr Paralleles Kino genannte Zusammenschluß verstand sich nicht mehr als gruppenaktives und themendeterminierendes Kollektiv-Über-lch, vielmehr entwickelten sich die einzelnen Filmer äußerst individuell weiter.

Seitdem ist viel geschehen. Die Brüder Igor und Gleb Aleinikov produzierten an der Moskauer Filmhochschule VGIK und bei der Debutabteilung des Experimentalfilmstudios der staatlichen Mosfilm (Jemand war hier). Während ihre anfänglichen Arbeiten (Brutale Krankheit der Männer, Metastasen, Traktora) von ironisierender Kritik an gesellschaftlichen und staatlichen Zustanden und ihre theoretischen Auseinandersetzungen vom sowjetischen Kino der zwanziger und dreißiger Jahre geprägt waren, wollen sie heute bewußt auf diese direkten Einflüsse verzichten.

Ein zentrales Anliegen ist ihnen der Zusammenhang Individuum-ldeologie, den sie in Postpolitisches Kino thematisieren. Der Film stellt ein exponiertes Stück Home-Art dar, ein Stil, der an verwackelte Super 8-Familienkinostreifen erinnert. Konsequenterweise zeigen sich die Regisseure beim Urlaub an der Ostsee bei Leningrad und montieren Szenen aus der sowjetischen Geschichte ein.

In vielen dieser älteren Filme wird Sprache ein eigenständiger, dem Visuellen ebenbürtiger Bestandteil, indem sie als Insertion auftritt, asynchron verwendet wird oder verschachtelt und simultan vom Signifikat ablenkt.

Die neueren Arbeiten (Jemand war hier, Mirage) beschäftigen sich mehr mit "filmischen" Aspekten. Ästhetik und Inhalt, Schauspielführung, Erzählkonstruktionen, aber auch technische Komponenten wie Kamera- und Lichfführung, Raumkomposition rücken ins Zentrum der Arbeit. Explizit wenden sich die Brüder Aleinikov gegen postmoderne Stilwillkür und versuchen genuine (sowjetische?) Stilmittel für den Entwurf eines Films der neunziger Jahre zu entwickeln.

Der Videoregisseur Boris Juchananov arbeitet völlig anders. Einst Regieassistent an einem Theater, leugnen seine Videofilme diese Herkunft nicht. Er arbeitet mit diversen Moskauer Theatergruppen zusammen und inszeniert neben seiner Videoarbeit auch noch Ballett. Zu seinem filmischen Konzept gehört die assoziative Improvisation im Ensemble, die einzelnen Szenen werden gemeinsam erschlossen und umgesetzt, wobei sich Inszenierung und Dokumentation verschränken. Dadurch gewinnen seine Arbeiten eine reflektorische Dimension, die auf die Entstehungssituation und das Zusammenspiel zwischen Schauspieler und Kamera verweist. Seine Videotheorie (an der er z. Zt. schreibt) umfaßt ein exzessives Sammeln von Material ("Matrix"), das er für spezielle Vorführungen bzw. Videokopien individuell montiert ("Variation"). Keine Kopie gleicht der anderen. Daran geknüpft ist eine Videophilosophie, die das Medium als linear und nicht diskret betrachtet. Mehr als die Montage und strukturelle Komposition ist dabei der zeitliche Aspekt, die Dauer bedeutungstragend. Boris Juchananov ist derzeit Leiter für Regiearbeit an der von ihm mitgegründeten Freien Universität Leningrad.

Andere Regisseure des Parallelen Kinos, wie z.B. die Leningrader Nekrorealisten, können an dieser Stelle und im Festivalprogramm keinen Platz finden. Es sei jedoch auf das 1991 stattfindende "3. Festival des PARALLELEN KINOS" hingewiesen.

TRAKTORA

16 mm, 13:00, UdSSR 1987, von Igor und Gleb Aleinikov.

Im Jahre 1980 betrug die Stärke der sowjetischen Traktormotoren 497 Millionen PS. Wen wunderts, daß diese industrielle Errungenschaft Anlaß größter Metaphorik ist. Der Traktor wird mit Erde und Volk assoziiert. "Unter den Personen des weiblichen Geschlechts kommt sogar der Mythos auf, daß Traktoristen eine ungewöhnliche Potenz besitzen" (Filmtext). Was denken Traktoristinnen im Land der funktionalen Emanzipation darüber?

JEMAND WAR HIER

35 mm, 42:00, UdSSR 1989, von Igor und Gleb Aleinikov.

Ein Mann kommt nach Hause, findet Fußspuren in seiner Wohnung vor und einen geheimnisvollen Zettel: "lch warte um 15 Uhr im Peking." Wer ist der mysteriöse Schreiber, wie ist er in die Wohnung gekommen und was will er? Im Restaurant trifft der Mann niemanden an. Auf einer Serviette wird eine neue Verabredung in der darauffolgenden Woche vorgeschlagen.

Für den Mann beginnt eine detektivische Spurensuche, die ihn in seine Vergangenheit führt.

Für den Film beginnt eine strukturalistische Reflexion über Spuren/Zeichen und ihre irreführende Referenz.

BRUTALE KRANKHEIT DER MÄNNER

16 mm, 12:00, UdSSR 1987, von Igor und Gleb Aleinikov.

Der Reigen von Technizität, Militarismus, Fortschrittsgläubigkeit und Ideologie wird auf männliches Machtdenken zurückgeführt. Malerisch verlassene Industrieästhetik symbolisiert Zivilisationsverfall und Menschenverachtung. Ein naiver Beobachter, dem die "Bilder dieser Welt" vorgeführt werden, fällt einem metaphorisch homosexuellen Vergewaltigungsakt zum Opfer.

METASTASEN

16 mm, 16;30, UdSSR 1985, von Igor und Gleb Aleinikov.

Bearbeitetes Dokumentarmaterial aus Lehr-, Kultur- und Fernseh-Filmen zeigt eine sowjetische Tradition, die des Zerfalls und der Ideologie im Alltag entlarvt wird. Eine an Eisenstein erinnernde Montagetechnik konfrontiert die Sequenzen mit einer Toncollage, die den kulturkritischen Tenor zur Persiflage erhöhen.

POSTPOLITISCHES KINO

16 mm, 25:00, UdSSR 1988, von Igor und Gleb Aleinikov.

Der Film beschreibt die Reise der Filmemacher nach Leningrad. Während im Ton Verbrauchsstatistiken und Kriegsberichte diktiert werden, blenden Inserts ein: Wörter sind keine Wörter. Film ist kein Film. Die Aleinikovs als Touristen bei einer Ruderpartie oder in den Straßen Leningrads vor Eisensteins Haus.

VERRÜCKTER PRINZ FASSBINDER

VHS, 44:00, UdSSR 1989, von Boris Juchananov.

Rainer Werner Faßbinder ist erklärtes Idol des Schauspielers Evgenij Cerba. In exaltierten Tönen monologisiert er über dessen Arbeitsgier und Lebenswut. Andere Künstler des Moskauer Undergrounds berichten von fiktiven Begegnungen mit dem Helden. Biographisches und Intimes vermengen sich zu einem Informationsstakkato, das die Identifizierung, aber auch die Vergeblichkeit, den Mythos nachleben zu wollen, spürbar macht.

Der improvisatorische Stil der Darstellung läßt das Medium Video gerade für solche Sujets überlegen erscheinen. Neben der impliziten Authentizität kann er den Kontext der sowjetischen Künstler nachvollziehbar vermitteln.

FLÜGEL

VHS, 30:00, UdSSR 1989, von Boris Juchananov.

Mikhail Kusmins erster Roman Flügel von 1907 über die Liebe des Gymnasiasten Wanja zum bürgerlichen Freigeist Stroop ist Vorlage dieses Videofilms. Fragmentartig tauchen Züge der Geschichte auf: Gespräche zwischen dem Jungen und dem Schriftsteller über Literatur. Aus einem Fenster wird der im Schnee herumtobende nackte Junge gezeigt, der Alterskonflikt und die Distanz des Schriftstellers zur Unschuld des Jungen thematisiert. Die Schreibmaschine tippt: "Für die wahre Wahrnehmung des Bildes muß man eine räumliche Distanz einnehmen."



© 1996 Aug 12 EMAF / emaf@bionic.zerberus.de


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