(EMAF96)
EUROPEAN MEDIA ART FESTIVAL · 11-15 SEPTEMBER 1996 · OSNABRÜCK

Tschechische Vangarde 1911-1941

EMAF 1991


von Jaroslav Andel, Houston 1989

Zu den ersten Erforschern dieses Mediums zahlten tschechische Künstler und Kritiker, die zwischen 1908 und 1918 Filme produzierten und Aufsätze veröffentlichten. Die Tatsache, daß progressive Prager Künstler den Film vor den Vangarde-Künstlern anderer Länder entdeckten, wird im Westen noch immer nicht hinreichend gewürdigt.

Emil Arthur Longen (Pittermann), früher Mitglied der Expressionisten-Vereinigung Osma (Die Acht, 1907-1908) und Max Urban, Mitglied der Kubisten-Vereinigung Skupina vytvarnych umelcu (Gruppe Bildender Künster, 1911-1917) wagten sich sogar schon 1911 - 17 an das Filmemachen heran. Urban und seine Frau Anna Sedlackova gründeten ASUM-Film, eine Gesellschaft, die vor dem Krieg eine treibende Kraft im tschechischen Kino war.

Um zu verstehen, warum das experimentelle Filmschaffen in Böhmen so früh einsetzte, muß man sich daran erinnern, daß das tschechische Kino schon 1898 begann. Vor dem Ersten Weltkrieg befand sich mehr als ein Drittel der 700 Filmtheater des Österreichisch-Ungarischen Reiches auf tschechischem Gebiet. Prag war auch Heimstätte einer vibrierenden Modernismus-Bewegung.

Tschechische Intellektuelle analysierten und priesen das neue Medium, bevor dies ihre Zeitgenossen in New York, Paris, Berlin und Moskau taten. Vaclav Tilles Essay Kinema (1908), in dem zukünftige Entwicklungen fast ein Jahrzehnt vorhergesehen wurden, gilt als erster wesentlicher Beitrag über Filmtheorie und Filmkritik.

In den Zwanzigern, nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik, feierte die Devetsil-Gruppe (1920-31) als herausragende Organisation der tschechischen Avantgarde - den Film als Funktionsmodell für andere Kunstformen. 1922 veröffentlichte die Vereinigung zwei Avantgarde- Anthologien, die Film als modernste der Kunstformen bezeichneten. Der Artikel Foto Kino Film von Karel Teige, einem führenden Theoretiker der Gruppe, ist das herausragende Manifest dieser Richtung. Er verbindet die verschiedenen Konzepte und Vorstellungen, die dem Interesse der Avantgarde an dem Medium zugrundeliegen - einschließlich der Vorstellung von Film als einem integrierenden, demokratischen und internationalen Medium, das sich auf moderne Technologie gründet.

Die Devetsil-Künstler sahen im Film die Kunstform der Zukunft, die traditionelle Medien ersetzen würde. Inspiriert vom neuen Medium befaßten sie sich mit Collage, Fotomontage, typographischem Design und dem Verfassen von Drehbüchern, und sie kombinierten dies alles zu einer neuen Kunstform, die sie Bildgedichte und Filmgedichte nannten. 1923 definierte Teige Bildgedichte als "Lösung der gemeinsamen Probleme von Malerei und Poesie und sagte voraus, daß "früher oder später diese Verbindung wahrscheinlich die - möglicherweise allmähliche Auflösung der traditionellen Mal- und Dichtverfahren auslöst".

1927 gründeten die Devetsil-Künstler zusammen mit anderen Filmenthusiasten den Klub des Neuen Films (Klub xa novy film). Ihr Ziel war es, Mitarbeiter im Kampf um die Schaffung eines unabhängigen tschechischen Films zu vereinen, und die früher atomisierten Versuche zur Erlangung eines neuen filmischen Ausdrucks zu konzentrieren sowie ganz allgemein gute Filme zu fördern". Der Klub versuchte selbst, Filme zu produzieren und ein Avantgarde-Filmtheater aufzubauen, doch dies mißlang.

Obwohl der Klub nur noch ein Debattierforum war, das für ein Jahr fortbestand, standen auf seiner Tagesordnung Dinge, die in den dreißiger Jahren dann auch kommen sollten: Festivals des AvantgardeFilms, unabhängige Produktion von Experimental-, Dokumentar- und Spielfilmen sowie professionelle Filmkritik. Außerdem brachte der Klub Künstler und Autoren zusammen, die später wichtige Rollen bei diesen Entwicklungen spielten. Von ihren Mitgliedern schufen Vladislav Vancura, Jindrich Honzl, Jiri Voskovec und Jan Werich in den dreißiger Jahren einflußreiche Spielfilme.

Das Konzept eines durch den Klub geförderten, unabhängigen Films, erscheint erneut in den Schriften von Alexander Hackenschmied, einem führenden Filmemacher und Veranstalter von Avantgarde-Filmfestivals und Ausstellungen über moderne Fotografie in den Jahren 1930 und 1931. Zu Hackenschmieds Programm des unabhängigen Films zählten Wissenschafts-, Werbe- und andere funktionale Filme: "Es ist nicht erforderlich, einen Versuch reiner Filmkunst woanders zu plazieren als in einem rein wissenschaftlichen Film, einem reinen Reisefilm, oder einem reinen Werbefilm. Wenn einer dieser Filme mit dem Verständnis der Erfordernisse und Möglichkeiten der Filmtechnik behandelt wird, und wenn deren Anwendung optimal mit der Zielsetzung des Films übereinstimmt ohne die kreativen Intentionen des Autors einzuengen, dann ist es ein guter Film. Die Bewegung des unabhängigen Films will gute Filme und sie kümmert sich um sie."

Dieses großzügige Konzept ermöglichte es, vorher separate Filmproduktionen als eine Bewegung zu sehen, und es half beim Dialog zwischen den verschiedenen Genres.

(Dieser Text ist eine Kurzfassung des Artikels "Künstler als Filmemacher", erschienen in Czech Modernism 1900-1945, herausgegeben von Jaroslav Andel und Anne W. Tucker, Houston: The Museum of Fine Arts, Houston, 1989.)


FILMRETROSPEKTIVE 1911 - 1941

Rudi na záletech
Rudi Fools Around

35 mm, 5:00, Stummfilm, s/w, CS 1911. Regisseure: Emil Artur Longen und Antonin Pech. Kamera: Antonin Pech.

Rudi sportsmanem
Rudi the Sportsman

35 mm, 9:00, Stummfilm, s/w, CS 1911. Regisseure: Emil Artur Longen und Antonin Pech. Kamera: Antonin Pech.

Diese beiden Slapsticks wurden spontan inmitten von Erholungseinrichtungen im zeitgenössischen Prag gedreht. Rudi ist die Kabaretterfindung und Verkörperung von Emil A. Longen.

Ceske hrady a zamky
Czech Castles and Chateaux

35 mm, 9:00, Stumfilm, eingefärbt, CS 1914. Regisseur: Karel Hasler. Kamera: Josef Brabec.

Geschaffen als Vorspiel zum Bühnenstück Man without an Apartmant, besteht der Film aus der Hetzjagd eines Schauspielers, von einem Landschloß zur Kabarett-Bühne, wo das Stück auf seinen Auftritt wartet.

Indem er in Autos mitgenommen wird, Fahrzeuge von Rennbooten bis zu Zügen entführt und einen Kleiderwechsel zu Zylinderhut und Frack bewerkstelligt, ruft der saumselige Thespisjünger in seinem "Endspurt" über den Dächern und Schornsteinen von Prag das Bild von Fantomas hervor.

Praha y zári svetel
Prague Shining in Lights

35 mm, 26:00, Stummfilm, s/w, CS 1928. Regisseur: Svatopluk Innemann.Kamera: Vacla Vich.

Dieses geballte mittellange Dokument des Prager Nachtlebens auf dem Höhepunkt der wilden zwanziger Jahre ist ein wichtiges Beispiel des City-Genres mit Parallelen zu Ruttmanns Berlin, Sinfonie einer Großstadt (1927) und Vertov`s Man with the Movie Camera (1929). Als ein Fest der Urbanität, angetrieben von elektrischem Licht, war dies der erste tschechische Film, der das gerade entwickelte, hochempfindliche panchromatische Filmmaterial benutzte.

Bezucelná procházka
Aimless Walk

35 mm, 10:00, Stummfi1m, s/w, CS 1930.Regisseur und Kamera: Alexander Hackenschmied.

Hackenschmieds erster Film, die Ich-Studie eines jungen Mannes, der sich in einen Prager Vorort aufmacht, verbindet den Betrachter mit dem anonymen Protagonisten mittels einer subjektiven Kamera. Dieser unkonventionelle Blickwinkel ruft ein lyrisch-melancholisches Gefühl inmitten der Alltagsrealität hervo, während der Spaziergang zur Metapher der Phantasie oder eines mentalen Trips wird.

Die Schlußsequenz (in welcher der Mann zu zwei Personen wird) stellt eine thematische Verbindung zu einer späteren Arbeit des Autors - Meshes of the Afternoon (1943) - her.

Svetlo proniká tmou
The Light Penetrates the Dark

35 mm, 7:00, Stummfilm, s/w, CS 1930. Regisseure: Frantisek Pilat und Otakar Vavra. Kamera: Frantisek Pilat.

Die Kinetische Skulptur des Bildhauers und Designers Pesanek warf acht Jahre lang Lichtstrahlen von der Fassade der Edison-Umspannstation der Prager Elektrizitätsgesellschaft. Angefertigt vor der Zerstörung der Skulptur im Jahre 1939 während der Nazi-Besatzungszeit, behandelt dieser kurze abstrakte Film - zeitlich zusammenfallend mit Moholy-Nagys Lightplay: Black White Gray (Ein Lichtspiel: Schwarz Weiß Grau, 1930) das modernistische Thema der Skulptur.

Nur dieses komplexe Filmdokument und Einzelaufnahmen sind heute noch erhalten.

Na Prazském hrade
Prague Castle

35 mm, 12:00, s/w, CS 1932. Regisseur und Kamera: Alexander Hackenschmied.

In seinem zweiten Film, einem lebhaften, kompakten Essay, versuchte Hackenschmied, "die Beziehung zwischen architektonischer Form und Musik zu finden". Hackenschmied hatte Architektur, Fotografie und Bühnenaufbau studiert, bevor er sich dem Film zuwandte.

Impressionen von den emporstrebenden gotischen Formen der St. Vitus Kathedrale werden sowohl aus dem Blickwinkel des Fußgängers als auch aus der Vogelperspektive vermittelt; sie werden Frantisek Bartos musikalischer Komposition durch einen flüssigen Schnittrhythmus angepaßt.

Burleska
Burlesque

35 mm, 3:00, Stummfilm, s/w, CS 1932. Regisseur und Kamera: Jan Kucera.

Um seine pazifistische Gesinnung durch ein Spektrum versteckter poetischer Verknüpfungen auszudrücken, dachte sich der junge Journalist und Filmkritiker Kucera eine verspielte Mischung aus surrealistischen Trickaufnahmen und Nachrichtenmaterial aus.

Zijeme v Praze
We Live in Prague

35 , 13:00, s/w, CS 1932. Regisseur: Otakar Vavra. Kamera: Jaroslav Tuzar.

Straßen-Vignetten mischen soziale Dokumentation mit dramatischen Zwischenspielen und fxieren Prags Wahrzeichen und Bürger mit intensiver Beobachtung.

Eingewoben in diese poetische Reportage über die Schönheit, Banalität, Vulgarität und den Optimismus der nicht zu unterdrückenden Urbanität Prags ist eine romantische Begegnung, die sich von heimlichen Küssen im Schatten von St. Vitus zu einem atemberaubenden Selbstmord-Sprung von einer Brücke entwickelt.

Atom vecnosti
The Atom of Eternity

35 mm, Original: 16 mm, 6:00, s/w, CS 1934. Regisseur und Kamera: Cenek Zahradnicek.

Der Verlauf einer Frühlingsleidenschaft und seine flüchtige Vollendung werden stilvoll und flüssig durch den Gebrauch des Lexikons der Avantgarde-lkonographie umgesetzt.

Allzu deutliche sexuelle Metaphern (der Zug rast in den Tunnel, kommt heraus und stößt zurück in den Tunnel) bringen diesen "Kunst" -Film in den Bereich der Selbstparodie.

Ruce v Utery
Hands on Tuesday

35 mm, Original: 16 mm, 11:00, s/w, CS 1935. Regisseur und Kamera: Cenek Zahradnicek.

Ein stellares Ensemble von Händen wird bei den privaten Handlungen eines Tages beobachtet: spielend, liebend, kommunizierend und ruhend. Extrem originelle Szenarios, den Seiten billiger Kriminalgeschichten entnommen oder beobachtet bei heimlichen Kneipenflirts, zeichnen diesen "Amateur -Film aus.

Máj
May

16 mm, 16:00, s/w, CS 1936. Regisseure: Emil Frantisek Burian und Cenek Zahradnicek. Kamera: Cenek Zahradnicek.

Dieser beziehungsreiche Kurzfilm war Bestandteil von Burians Avantgarde-Bühnenbearbeitung von Karel Hynek Machas "nineteenth-century Romantic poem" (etwa: Romantisches Gedicht im 19. Jahrhundert).

Verzerrte Nahaufnahmen weiblicher Körperteile wurden fast bis ins Abstrakte vergrößert und auf ein Leinentuch projiziert, um die gleichzeitig stattfindende Bühnenhandlung zu ergänzen.

Cernobila rapsodie
Black and White Rhapsody

35 mm., 3:00, s/w, CS 1996. Regie: Fric.

Mit geschickten, kaleidoskopartigen Kameraeffekten und im Freien filmte der sehr produktive Regisseur Fric diesen lebhaften Jux mit Frauenpaaren in zweifarbigen Kostümen. Der Film, getragen von einem ausgefeilten Swing-Rhythmus und in amüsanter Weise zwischen einem Turnfest und brillanter Werbung für Damenwäsche hin- und herschwankend, war eigentlich als Promotion für die Tanzgruppe von Frics Tochter vorgesehen.

Hra bnbunek
The Play of Bubbles, auch freigegeben als Fantaisie érotique

35 mm. 2:00, Gaspar-Farbe, CS 1936. Regisseur und Kamera: Karel Dodal und Irena Dodalova.

Dieser Trick- und Werbefilm für Saponia-Produkte enthält ein Jazz-Jingle, Störche bei ihren "Lieferungen" in der Tschechoslowakei, verspielt abstraktes Design und den zweilagigen Gaspar-Farbprozeß.

Silnice zpivá
The Highway Sings

35 mm, 4:00. s/w, CS 1937. Regisseure: Elmar Klos, Alexander Hackenschmied. Kamera: Alexander Hackenschmied und Jan Lukas.

Jugendliche Erfindungsgabe und Ausgelassenheit, die von der Avantgarde in die Werbung gebracht wurden, werden deutlich in den Low-Budget-Effekten und dem fotografischen Stil dieses Bata-Tire-Werbestreifens. Er bekam einen ersten Preis anläßlich der Ausstellung 1937 in Paris.

Myslenka hledajici svetlo
The idea Seeking Light

35 mm, 10:00, s/w, CS 1938. Regisseure: Irena Dodalova und Karel Dodal. Kamera: Karel Dodal.

Als Vorläufer der computererzeugten Graphiken verbindet dieser phantasievolle, abstrakte Film verschiedene Lichtmuster mit der Botschaft einer weltweiten Brüderlichkeit.

Divotverne oko
The Magic Eye

35 mm, 10:00, s/w, CS 1939. Regisseur: Jiri Lehovec. Kamera: Vaclav Hanus.

Als Kreuzung zwischen Funktionalismus und Surrealismus ermöglichen Lehovecs extreme Nahaufnahmen seine Freudsche Vision der Enthüllung einer verborgenen Verbindung zwischen alltäglichen Dingen.

Indem die Aussage von Dziga Vertovs wegbereitendem "Filmauge"-Manifest wiederbelebt wird, (ver)führt der Film den Betrachter in eine dem bloßen Auge nicht zugänglichen Welt.

Rytmus
Rhythm

35 mm, 12:00, s/w, CS 1941. Regisseur: Jiri Lehovec. Kamera: Pavel Hrdlicka.

In vier Abschnitte unterteilt, erforscht, illustriert und harmonisiert Rhythm in einer dynamischen Zusammenfassung neben den ältesten auch die neuesten Methoden der visuellen Darstellung musikalischer Wahrnehmung.

Die Sequenzen bewegen sich von einem wissenschaftlichen Labor mit "Noir"-Belichtung in ein Aufnahmestudio, zum Trickfilmtisch und schließlich in den Projektionsraum eines Filmtheaters.

Alle Kopien sind aus dem tschechoslowakischen Film-Archiv (Ceskoslovenska filmotéka) in Prag. Die Einträge in die Checkliste wurden von Ralph Mckay vorgenommen.



© 1996 Aug 12 EMAF / emaf@bionic.zerberus.de


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