Teil I: Filme von Peter Greenaway
Produktionen für das "Central Office of Information (COI)"
präsentiert, eingeführt und referiert von Thomas W. Klinger,
Münster.
Eddie Kid
16mm, 5:00, col., Großbritannien . 1978
Eddie Kid ist ein Motorradfahrer, der versucht, seinem großen Vorbild
Evil Knievel nachzueifern. Eddie Kid fliegt vor begeisterten Zuschauern mit
seinem Motorrad über Dutzende Busse und Autos. Andere Motorradakrobaten
fahren durch brennende Reifen hindurch und über geparkte Autos hinweg.
Dazwischengeschnitten sind Zahlenkolonnen und Interviews mit Eddie Kid, dessen
größter Wunsch es ist. einmal über den Grand Canyon zu fliegen.
Peter Greenaway drehte Eddie Kid für die Informationsreihe This Week in
Britain des Central Office of Information (COI). This Week in
Britain ist vergleichbar mit den Nachrichtenrollen, die in den Kinos
früher vor den Filmen liefen. Die Serie soll ein buntes und unterhaltsames
Potpourri über außergewöhnliche Ereignisse und Menschen sein.
Kritische Informationen sind ebenso
unerwünscht wie unliebsame politische Äußerungen. Das COI ist,
dem Goethe-lnstitut vergleichbar, eine Institution, die für den British
Way of Life im Ausland werben soll. Peter Greenaway arbeitete über ein
Jahrzehnt beim COI, zuerst als bloßer Gehilfe, dann als Cutter und
schließlich als Redakteur, der für einzelne Sendungen verantwortlich
zeichnete. Eine Laufbahn, die, wie es so schön heißt, Greenaway das
Filmhandwerk von der Pike an erlernen ließ.
Die feste Anstellung ermöglichte es ihm zudem, Geld für eigene
Produktionen abzuzweigen. Doch so sehr die Arbeit beim COI Basis für sein
filmisches Schaffen war, so sehr sind seine Filme davon geprägt,
inhaltlich und formal auf Distanz zu den Produktionen des COI zu gehen.
Greenaway merkte bald, daß ein dokumentarisches Bild von
Großbritannien zu zeichnen vor allem bedeutet, für alles Britische
zu werben: daß ein Dokumentarfilm also mitnichten nur die bloße
Realität filmisch wiedergeben will, sondern daß Intentionen damit
verbunden sind, die eine wertende Sichtweise des Dokumentaristen erfordert.
Women Artists
16mm, 5:00, col., Grol3britannien 1979.
Eine Ausstellung zweier australischer Künstlerinnen in London gibt den
Anlaß zu einem Diskurs über die Rolle, die Frauen in der Kunst
spielen. Während die Gemälde der beiden Frauen zu sehen sind, wird
darüber gesprochen, warum zwar 50% aller Kunststudenten Frauen sind,
jedoch nur 4% den Beruf der Künstlerin ergreifen. Gegenüber
Vorurteilen über "Frauenkunst" wird die Forderung nach der
geschlechtsunabhängigen, sich lediglich nach künstlerischen Kriterien
richtenden Beurteilung erhoben. Zitate (von Männern), die sich über
die Beschäftigung von Frauen im künstlerischen Bereich mokieren,
werden eingeblendet und der Lächerlichkeit preisgegeben.
Women Artists ist der mit Abstand beste Film, den Peter Greenaway in der
Reihe This Weck in Britain hat drehen können. Ohne Zweifel liegt
der Grund dafür im Thema Malerei begründet. Greenaway, der selbst
ausgebildeter Maler ist, weiß, wie er die Gemälde am
wirkungsvollsten darstellen kann. So boshaft und direkt wie in keinem anderen
Film dieser Reihe ergreift Greenaway Partei für die Gleichberechtigung.
Lacock Village
16mm, 5:00, col., Großbritannien l98O
Lacock Village ist das filmische Portrait des Dorfes Lacock, das dem
National Trust gehört und als Dorf unter Denkmalschutz steht.
Ein weiterer Beitrag zur COI-Informationsreihe This Weck in Britain. Lacock
Village ist ein lieblicher Film über ein liebenswürdiges Dorf, in
dem sogar eine Horde Kinder, von dem jedes nur einen Kaugummi im Wert von
fünf Pfennig kaufen will, von der Verkäuferin freundlich und
zuvorkommend bedient wird. Mehr ist über den Film nicht zu sagen, Thema
und Auftragsstellung ließen selbst Greenaway keine Möglichkeit zur
Selbstverwirklichung.
Cut Above The Rest
16mm, 5:00, col., GroBbritannien 1978.
Savile Row, die Straße, in der sich exklusive Schneider befinden. die
für Joan Collins oder Bianca und Mick Jagger Kleider anfertigen, ist das
Zentrum dieses Films. Aufnahmen von den Fertigungsprozessen bis zur
Vorführung des fertigen Produkts auf dem Laufsteg sind unterbrochen von
Interviews mit dem bekannten Jet-Set Schneider.
Cut Above The Rest ist ein weiterer Beitrag Greenaways zu der
Informationsreihe des COI This Weck in Britain. Thema dieses Mal:
Anpreisung der in London beheimateten hohen Modekunst. Das Desinteresse
Greenaways an diesem Stoff ist nicht zu übersehen. Gleichwohl ist
Greenaways Handschrift nachweisbar: Schnelle, harte Schnittfolgen,
die dem fehlenden inhaltlichen Tempo eine formale Dramatik entgegensetzt und
der Einsatz der Musik als aktives, Stimmung und Aufbau des Films bestimmendes
Element, entsprechen unverkennbar Greenaways Vorstellungen vom Filmen.
Country Diary
16mm, 5:00, col., Großbritannien 1980.
Edith Holdens Aufzeichnungen vom Wandel der Jahreszeiten wurden von einer
jungen Frau Jahre nach Holdens Tod neu herausgebracht. Und: Das Buch wurde zu
einem Bestseller. Country Diary stellt sowohl das Buch als auch die Frau
vor, die dem Buch zu Berühmtheit verholfen hat.
Conntry Diary ist der letzte Film, den Peter Greenaway für This
Weck in Britain gedreht hat. Zu der Entstehungszeit des Films, 1980, hatte
Greenaway bereits den Weg in die Selbständigkeit gewagt. Ab und zu nahm er
noch Aufträge vom COI an, da er mit seinen Filmen seine Existenz und die
seiner Familie nicht gewährleisten konnte. Das einzige, das diesen Film zu
einem Peter Greenaway-Film macht, sind die vielen Zeichnungen von Tieren,
insbesondere von Vögeln, die Greenaways Interesse an der Ornothologie
widerspiegeln.
Leeds Castle
16mm, 5:00, col., Großbritannien 1979.
Leeds Castle in Kent ist der Schauplatz einer großen Show, die
tatsächlich nichts anderes als eine bombastische Verkaufsgala ist.
Ehrengast ist Prinzessin Margaret. Die Vorbereitungen für das riesige Fest
werden gezeigt und der Initiator, ein smarter und erfolgreicher britischer
Unternehmer, wird interviewt. Schließlich werden die Glanzpunkte der
Aufführung wiedergegeben.
Leeds Castle ist der vierte von sechs Beiträgen, die Greenaway
für die Serie This Week in Britain gedreht hat. Wieder war es die
Aufgabe des Redakteurs (Greenaway), das Image der britischen Wirtschaft
aufzumöbeln. 1979, als die britischen Verkaufszahlen international wieder
einmal Tiefststände unterboten, schien die Darstellung des
Unternehmungsgeistes von J. Parker, des Organisators des Spektakels, das
probate Mittel zu sein, um darauf hinzuweisen, daß es die britische
Industrie noch gibt. Und so mußte darauf hingewiesen werden, daß
Parkers Firma sogar nach Hongkong und man höre und glaube es nicht - sogar
in das Reiche des Bösen, nach Japan, exportiert.
Terence Conran
16mm, 15:00, col., Großbritannien 1981.
Der Film ist ein Portrait des britischen Vorzeigemöbeldesigners Terence
Conran. Er entwirft Möbel, bespricht, wie es sich für einen modernen
Unternehmer geziemt, mit seinen Mitarbeitern Modelle und die weitere
Vorgehensweise, und versucht in einem Interview, seinen Erfolg zu
erklären. Der Hauptteil des Films ist der Dokumentation seines
wirtschaftlichen Erfolgs gewidmet, das heißt: viele Aufnahmen aus seinen
Geschäften und Aussagen anderer über Conran.
Terence Conran ist eine weitere Arbeit, die Peter Greenaway im Auftrag
des COI angefertigt hat. Der Film ist Bestandteil einer Serie, die
Insight (Einblicke) genannt wird und die dem Regisseur mehr Freiheiten
lassen als die sich auf bloße Berichterstattung beschränkende
This Week in Britain-Serie. Natürlich besteht der
hauptsächliche Zweck auch dieser Reihe darin, für alles Britische zu
werben. Und so wird auch betont, daß Conran nicht nur ein leading
designer und Geschäftsmann
in Großbritannien ist, sondern daß sich sein Erfolg auch in "Europa
und Amerika" fortsetzt.
Das erste, das bei Terence Conran auffällt, ist die absolute
Ungleichheit von Bild und Musik auf der einen und Kommentar auf der anderen
Seite. Während der Kommentar lediglich dazu dient, die erwarteten
Informationen weiterzugeben, stecken die Kompositionen von Bild und Musik
voller Überraschungen. Der von einem gelangweilten Sprecher vorgetragene
Text wirkt wie eine Zwangsjacke, legt sich wie ein Leichtentuch über den
quicklebendig wirkenden Film. Ganz selten nur findet die _ akustische
Langeweile h eine bildhafte Entsprechung, so, als wollte Greenaway seine
Auftraggeber besänftigen, indem er ihnen zumindest teilweise das liefert,
was sie haben wollen. Ansonsten benutzte Greenaway diesen Film als
Experimentierfeld. Er schafft Distanz, indem er Szenen plötzlich und
unvermittelt aus dem Fernsehbildformat herausreißt und sie entweder mit
der erkennbaren Form eines Fernsehapparates umgibt oder von einer Leinwand
abfilmt. Schnelle, auf die tempoklotzende Musik abgestimmte Schnitte schaffen
eine visuelle Ästhetik, die anzuschauen Spaß macht.
Die von Michael Nyman komponierte Musik läßt oftmals nur widerwillig
dem Sprecher den Vorrang. Meistens wird sie nur heruntergefahren, sodaß
sie im Hintergrund weiter gegen die Langeweile protestieren kann. Die Trennung
von Bild und Ton ist ein Stilmittel, das Greenaway in allen seinen
experimentellen Kurzfilmen anwendet. Waren dort, neben künstlerischen
Erwägungen, finanzielle Beschränkungen die Ursache für diese
Vorgehensweise, so sind hier die Vorgaben und Erwartungen seiner Auftraggeber
die Grenzen, die Greenaway damit zu überwinden versuchte.
Zandra Rhodes
16mm, 15:00, col., Großbritannien 1981.
Portrait der englischen Modeschöpferin Zandra Rhodes. Interviews mit der
Designerin selbst und ihren engsten Mitarbeitern/innen beleuchten die
Gründe für den Erfolg, den Zandra Rhodes mit ihrer avantgardistischen
Mode erzielte. In weiteren Ausschnitten werden ihre Arbeitsweise und von ihr
entworfene Kleider vorgeführt.
Zandra Rhodes ist eine Dokumentation und doch ein Greenaway. Die
Schnittechnik, hart am Rhythmus der Musik orientiert, und die leise Ironie, die
Greenaway durch seine Kamera und das Licht dann anklingen läßt, wenn
Zandra Rhodes zu sehr von sich selbst schwärmt, lassen erkennen, daß
er auch im Rahmen dieser Auftragsarbeit seine Vorstellungen vom Filmen hat
einbauen können.
The Sea In Their Blood - Beside The Sea (The Coastline)
16mm, 30:00. col., Großbritannien 1983.
Wasser, Leuchttürme, Wasser, Klippen, Wasser, Strandbäder, Wasser und
immer wieder Photographien von Vögeln. Unterlegt sind diese Bilder von der
Nahtstelle der britischen Insel mit dem sie umgebenden Wasser mit einer nicht
enden wollenden Aneinanderreihung von Statistiken.
Die Anpreisung der Schönheit englischer, schottischer und walisischer
Küstenlandschaften, das war die Aufgabe. die Peter Greenaway mit dem knapp
halbstündigen Film The Constline erfüllen sollte. Das Resultat
ist eine totale Umkehrung ins Gegenteil: Jedes Wort des trocken und emotionslos
vorgetragenen Textes sprüht förmlich vor Ironie und der Film ist eine
einzige Persiflage auf die Werbefilme, die die ganz besonderen Vorzüge
bestimmter Landschaften herauszustreichen haben. Ob die zuständigen
Redakteure des Central Office of Information, Auftraggeber und früherer
Arbeitgeber Peter Greenaways, dies nicht gemerkt haben oder ob ihnen der Name
Greenaway
im Abspann soviel Wert war, daß sie über die fehlenden
schönfärberischen Qualitäten des Films hinwegsahen oder ob es in
ihrem Sinne geschah? Diese Frage ist nicht mehr zu klären. Auf jeden Fall
könnte The Coustline als eine Folge des Monty Pythons Flying
Circus ausgestrahlt werden.
Die Gigantonomie der Fremdenverkehrsvereine, die jede positive Entwicklung (und
es gibt nur positive Entwicklungen) anhand von Zahlen und Statistiken belegen
wollen, findet hier ihr glorioses Waterloo: "Würde jeder Mann, jede Frau
und jedes Kind zur gleichen Zeit ans Meer gehen, so stünden jedem 7,5
Zentimeter Strand zur Verfügung. Genaugenommen bliebe kein Platz für
ihre Hunde." Oder: "Der Meeresspiegel steigt um 1,6 Millimeter jährlich.
Im Jahre 160000 wird das Nelson-Denkmal auf Trafalgar Square zur Hälfte
unter Wasser stehen und der Schauplatz der Schlacht von Trafalgar wird acht
Klafter unter der Wasseroberfläche sein." Oder: "Es gibt 750.000
Strandkörbe, zwei Millionen Wohnwagen, 3.000 Meeresschwimmbäder und
27 fahrende Kasperletheater in Großbritannien. Auf jeder der 18 Millionen
Photographien, die letztes Jahr geschossen wurden, war irgendwo ein Streifen
Meer zu sehen - und aus den Kameras rieselte der Sand." Kein Pardon kann der
Badeurlaub machende britische Jack erwarten: "In Blackpool werden jeden morgen
im Juli 180.000 Eier in 3.500 Hotels aufgeschlagen, um das Frühstück
für 160.000 Besucher, die gerade eben aus 150.000 Betten aufgestanden
sind, zu bereichern. Danach spaziert man auf der 11 Kilometer langen Promenade
auf und ab, ißt Fisch und Pommes an einer der 200 Imbißbuden und
mindestens 50.000 werden nächstes Jahr wiederkommen und genau das gleiche
wieder tun."
Der britische Snobismus findet seinen Ausdruck in der folgenden Statistik:
"Fisch wird in Großbritannien zumeist gebraten und paniert gegessen. 10%
wird gekocht, 5% gegrillt, 3% wird gedünstet. Nur ein kleiner Teil wird
roh gegessen, außer von Katzen und Besuchern japanischer Restaurants, von
denen es 29 in London und eines in Milton Keynes gibt." Schließlich
überrascht uns Greenaway mit einer geographischen Sensation: "Ein Kanal
verbindet den Fluß Severn mit der Themse - somit ist England in zwei
große Inseln aufgespalten. Das gleiche gilt für Schottland, wo der
Schottlandkanal Inverness und Fort William verbindet."
Natürlich hat auch die Vogelkunde Einzug in The Coustline gefunden:
"Die Briten geben vier Millionen Pfund jährlich für
Vogelbeobachtungen aus - mehr als jede andere Nation. Ohne Frage eine
Kompensation dafür, auf einer Insel zu leben und nicht fliegen zu
können."