(EMAF96)
EUROPEAN MEDIA ART FESTIVAL · 11-15 SEPTEMBER 1996 · OSNABRÜCK

Peter Greenaway I

EMAF 1992


Teil I: Filme von Peter Greenaway

Produktionen für das "Central Office of Information (COI)" präsentiert, eingeführt und referiert von Thomas W. Klinger, Münster.

Eddie Kid

16mm, 5:00, col., Großbritannien . 1978

Eddie Kid ist ein Motorradfahrer, der versucht, seinem großen Vorbild Evil Knievel nachzueifern. Eddie Kid fliegt vor begeisterten Zuschauern mit seinem Motorrad über Dutzende Busse und Autos. Andere Motorradakrobaten fahren durch brennende Reifen hindurch und über geparkte Autos hinweg. Dazwischengeschnitten sind Zahlenkolonnen und Interviews mit Eddie Kid, dessen größter Wunsch es ist. einmal über den Grand Canyon zu fliegen.

Peter Greenaway drehte Eddie Kid für die Informationsreihe This Week in Britain des Central Office of Information (COI). This Week in Britain ist vergleichbar mit den Nachrichtenrollen, die in den Kinos früher vor den Filmen liefen. Die Serie soll ein buntes und unterhaltsames Potpourri über außergewöhnliche Ereignisse und Menschen sein. Kritische Informationen sind ebenso unerwünscht wie unliebsame politische Äußerungen. Das COI ist, dem Goethe-lnstitut vergleichbar, eine Institution, die für den British Way of Life im Ausland werben soll. Peter Greenaway arbeitete über ein Jahrzehnt beim COI, zuerst als bloßer Gehilfe, dann als Cutter und schließlich als Redakteur, der für einzelne Sendungen verantwortlich zeichnete. Eine Laufbahn, die, wie es so schön heißt, Greenaway das Filmhandwerk von der Pike an erlernen ließ.

Die feste Anstellung ermöglichte es ihm zudem, Geld für eigene Produktionen abzuzweigen. Doch so sehr die Arbeit beim COI Basis für sein filmisches Schaffen war, so sehr sind seine Filme davon geprägt, inhaltlich und formal auf Distanz zu den Produktionen des COI zu gehen. Greenaway merkte bald, daß ein dokumentarisches Bild von Großbritannien zu zeichnen vor allem bedeutet, für alles Britische zu werben: daß ein Dokumentarfilm also mitnichten nur die bloße Realität filmisch wiedergeben will, sondern daß Intentionen damit verbunden sind, die eine wertende Sichtweise des Dokumentaristen erfordert.

Women Artists

16mm, 5:00, col., Grol3britannien 1979.

Eine Ausstellung zweier australischer Künstlerinnen in London gibt den Anlaß zu einem Diskurs über die Rolle, die Frauen in der Kunst spielen. Während die Gemälde der beiden Frauen zu sehen sind, wird darüber gesprochen, warum zwar 50% aller Kunststudenten Frauen sind, jedoch nur 4% den Beruf der Künstlerin ergreifen. Gegenüber Vorurteilen über "Frauenkunst" wird die Forderung nach der geschlechtsunabhängigen, sich lediglich nach künstlerischen Kriterien richtenden Beurteilung erhoben. Zitate (von Männern), die sich über die Beschäftigung von Frauen im künstlerischen Bereich mokieren, werden eingeblendet und der Lächerlichkeit preisgegeben.

Women Artists ist der mit Abstand beste Film, den Peter Greenaway in der Reihe This Weck in Britain hat drehen können. Ohne Zweifel liegt der Grund dafür im Thema Malerei begründet. Greenaway, der selbst ausgebildeter Maler ist, weiß, wie er die Gemälde am wirkungsvollsten darstellen kann. So boshaft und direkt wie in keinem anderen Film dieser Reihe ergreift Greenaway Partei für die Gleichberechtigung.

Lacock Village

16mm, 5:00, col., Großbritannien l98O

Lacock Village ist das filmische Portrait des Dorfes Lacock, das dem National Trust gehört und als Dorf unter Denkmalschutz steht.

Ein weiterer Beitrag zur COI-Informationsreihe This Weck in Britain. Lacock Village ist ein lieblicher Film über ein liebenswürdiges Dorf, in dem sogar eine Horde Kinder, von dem jedes nur einen Kaugummi im Wert von fünf Pfennig kaufen will, von der Verkäuferin freundlich und zuvorkommend bedient wird. Mehr ist über den Film nicht zu sagen, Thema und Auftragsstellung ließen selbst Greenaway keine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung.

Cut Above The Rest

16mm, 5:00, col., GroBbritannien 1978.

Savile Row, die Straße, in der sich exklusive Schneider befinden. die für Joan Collins oder Bianca und Mick Jagger Kleider anfertigen, ist das Zentrum dieses Films. Aufnahmen von den Fertigungsprozessen bis zur Vorführung des fertigen Produkts auf dem Laufsteg sind unterbrochen von Interviews mit dem bekannten Jet-Set Schneider.

Cut Above The Rest ist ein weiterer Beitrag Greenaways zu der Informationsreihe des COI This Weck in Britain. Thema dieses Mal: Anpreisung der in London beheimateten hohen Modekunst. Das Desinteresse Greenaways an diesem Stoff ist nicht zu übersehen. Gleichwohl ist Greenaways Handschrift nachweisbar: Schnelle, harte Schnittfolgen, die dem fehlenden inhaltlichen Tempo eine formale Dramatik entgegensetzt und der Einsatz der Musik als aktives, Stimmung und Aufbau des Films bestimmendes Element, entsprechen unverkennbar Greenaways Vorstellungen vom Filmen.

Country Diary

16mm, 5:00, col., Großbritannien 1980.

Edith Holdens Aufzeichnungen vom Wandel der Jahreszeiten wurden von einer jungen Frau Jahre nach Holdens Tod neu herausgebracht. Und: Das Buch wurde zu einem Bestseller. Country Diary stellt sowohl das Buch als auch die Frau vor, die dem Buch zu Berühmtheit verholfen hat.

Conntry Diary ist der letzte Film, den Peter Greenaway für This Weck in Britain gedreht hat. Zu der Entstehungszeit des Films, 1980, hatte Greenaway bereits den Weg in die Selbständigkeit gewagt. Ab und zu nahm er noch Aufträge vom COI an, da er mit seinen Filmen seine Existenz und die seiner Familie nicht gewährleisten konnte. Das einzige, das diesen Film zu einem Peter Greenaway-Film macht, sind die vielen Zeichnungen von Tieren, insbesondere von Vögeln, die Greenaways Interesse an der Ornothologie widerspiegeln.

Leeds Castle

16mm, 5:00, col., Großbritannien 1979.

Leeds Castle in Kent ist der Schauplatz einer großen Show, die tatsächlich nichts anderes als eine bombastische Verkaufsgala ist. Ehrengast ist Prinzessin Margaret. Die Vorbereitungen für das riesige Fest werden gezeigt und der Initiator, ein smarter und erfolgreicher britischer Unternehmer, wird interviewt. Schließlich werden die Glanzpunkte der Aufführung wiedergegeben.

Leeds Castle ist der vierte von sechs Beiträgen, die Greenaway für die Serie This Week in Britain gedreht hat. Wieder war es die Aufgabe des Redakteurs (Greenaway), das Image der britischen Wirtschaft aufzumöbeln. 1979, als die britischen Verkaufszahlen international wieder einmal Tiefststände unterboten, schien die Darstellung des Unternehmungsgeistes von J. Parker, des Organisators des Spektakels, das probate Mittel zu sein, um darauf hinzuweisen, daß es die britische Industrie noch gibt. Und so mußte darauf hingewiesen werden, daß Parkers Firma sogar nach Hongkong und man höre und glaube es nicht - sogar in das Reiche des Bösen, nach Japan, exportiert.

Terence Conran

16mm, 15:00, col., Großbritannien 1981.

Der Film ist ein Portrait des britischen Vorzeigemöbeldesigners Terence Conran. Er entwirft Möbel, bespricht, wie es sich für einen modernen Unternehmer geziemt, mit seinen Mitarbeitern Modelle und die weitere Vorgehensweise, und versucht in einem Interview, seinen Erfolg zu erklären. Der Hauptteil des Films ist der Dokumentation seines wirtschaftlichen Erfolgs gewidmet, das heißt: viele Aufnahmen aus seinen Geschäften und Aussagen anderer über Conran.

Terence Conran ist eine weitere Arbeit, die Peter Greenaway im Auftrag des COI angefertigt hat. Der Film ist Bestandteil einer Serie, die Insight (Einblicke) genannt wird und die dem Regisseur mehr Freiheiten lassen als die sich auf bloße Berichterstattung beschränkende This Week in Britain-Serie. Natürlich besteht der hauptsächliche Zweck auch dieser Reihe darin, für alles Britische zu werben. Und so wird auch betont, daß Conran nicht nur ein leading designer und Geschäftsmann in Großbritannien ist, sondern daß sich sein Erfolg auch in "Europa und Amerika" fortsetzt.

Das erste, das bei Terence Conran auffällt, ist die absolute Ungleichheit von Bild und Musik auf der einen und Kommentar auf der anderen Seite. Während der Kommentar lediglich dazu dient, die erwarteten Informationen weiterzugeben, stecken die Kompositionen von Bild und Musik voller Überraschungen. Der von einem gelangweilten Sprecher vorgetragene Text wirkt wie eine Zwangsjacke, legt sich wie ein Leichtentuch über den quicklebendig wirkenden Film. Ganz selten nur findet die _ akustische Langeweile h eine bildhafte Entsprechung, so, als wollte Greenaway seine Auftraggeber besänftigen, indem er ihnen zumindest teilweise das liefert, was sie haben wollen. Ansonsten benutzte Greenaway diesen Film als Experimentierfeld. Er schafft Distanz, indem er Szenen plötzlich und unvermittelt aus dem Fernsehbildformat herausreißt und sie entweder mit der erkennbaren Form eines Fernsehapparates umgibt oder von einer Leinwand abfilmt. Schnelle, auf die tempoklotzende Musik abgestimmte Schnitte schaffen eine visuelle Ästhetik, die anzuschauen Spaß macht.

Die von Michael Nyman komponierte Musik läßt oftmals nur widerwillig dem Sprecher den Vorrang. Meistens wird sie nur heruntergefahren, sodaß sie im Hintergrund weiter gegen die Langeweile protestieren kann. Die Trennung von Bild und Ton ist ein Stilmittel, das Greenaway in allen seinen experimentellen Kurzfilmen anwendet. Waren dort, neben künstlerischen Erwägungen, finanzielle Beschränkungen die Ursache für diese Vorgehensweise, so sind hier die Vorgaben und Erwartungen seiner Auftraggeber die Grenzen, die Greenaway damit zu überwinden versuchte.

Zandra Rhodes

16mm, 15:00, col., Großbritannien 1981.

Portrait der englischen Modeschöpferin Zandra Rhodes. Interviews mit der Designerin selbst und ihren engsten Mitarbeitern/innen beleuchten die Gründe für den Erfolg, den Zandra Rhodes mit ihrer avantgardistischen Mode erzielte. In weiteren Ausschnitten werden ihre Arbeitsweise und von ihr entworfene Kleider vorgeführt.

Zandra Rhodes ist eine Dokumentation und doch ein Greenaway. Die Schnittechnik, hart am Rhythmus der Musik orientiert, und die leise Ironie, die Greenaway durch seine Kamera und das Licht dann anklingen läßt, wenn Zandra Rhodes zu sehr von sich selbst schwärmt, lassen erkennen, daß er auch im Rahmen dieser Auftragsarbeit seine Vorstellungen vom Filmen hat einbauen können.

The Sea In Their Blood - Beside The Sea (The Coastline)

16mm, 30:00. col., Großbritannien 1983.

Wasser, Leuchttürme, Wasser, Klippen, Wasser, Strandbäder, Wasser und immer wieder Photographien von Vögeln. Unterlegt sind diese Bilder von der Nahtstelle der britischen Insel mit dem sie umgebenden Wasser mit einer nicht enden wollenden Aneinanderreihung von Statistiken.

Die Anpreisung der Schönheit englischer, schottischer und walisischer Küstenlandschaften, das war die Aufgabe. die Peter Greenaway mit dem knapp halbstündigen Film The Constline erfüllen sollte. Das Resultat ist eine totale Umkehrung ins Gegenteil: Jedes Wort des trocken und emotionslos vorgetragenen Textes sprüht förmlich vor Ironie und der Film ist eine einzige Persiflage auf die Werbefilme, die die ganz besonderen Vorzüge bestimmter Landschaften herauszustreichen haben. Ob die zuständigen Redakteure des Central Office of Information, Auftraggeber und früherer Arbeitgeber Peter Greenaways, dies nicht gemerkt haben oder ob ihnen der Name Greenaway im Abspann soviel Wert war, daß sie über die fehlenden schönfärberischen Qualitäten des Films hinwegsahen oder ob es in ihrem Sinne geschah? Diese Frage ist nicht mehr zu klären. Auf jeden Fall könnte The Coustline als eine Folge des Monty Pythons Flying Circus ausgestrahlt werden.

Die Gigantonomie der Fremdenverkehrsvereine, die jede positive Entwicklung (und es gibt nur positive Entwicklungen) anhand von Zahlen und Statistiken belegen wollen, findet hier ihr glorioses Waterloo: "Würde jeder Mann, jede Frau und jedes Kind zur gleichen Zeit ans Meer gehen, so stünden jedem 7,5 Zentimeter Strand zur Verfügung. Genaugenommen bliebe kein Platz für ihre Hunde." Oder: "Der Meeresspiegel steigt um 1,6 Millimeter jährlich. Im Jahre 160000 wird das Nelson-Denkmal auf Trafalgar Square zur Hälfte unter Wasser stehen und der Schauplatz der Schlacht von Trafalgar wird acht Klafter unter der Wasseroberfläche sein." Oder: "Es gibt 750.000 Strandkörbe, zwei Millionen Wohnwagen, 3.000 Meeresschwimmbäder und 27 fahrende Kasperletheater in Großbritannien. Auf jeder der 18 Millionen Photographien, die letztes Jahr geschossen wurden, war irgendwo ein Streifen Meer zu sehen - und aus den Kameras rieselte der Sand." Kein Pardon kann der Badeurlaub machende britische Jack erwarten: "In Blackpool werden jeden morgen im Juli 180.000 Eier in 3.500 Hotels aufgeschlagen, um das Frühstück für 160.000 Besucher, die gerade eben aus 150.000 Betten aufgestanden sind, zu bereichern. Danach spaziert man auf der 11 Kilometer langen Promenade auf und ab, ißt Fisch und Pommes an einer der 200 Imbißbuden und mindestens 50.000 werden nächstes Jahr wiederkommen und genau das gleiche wieder tun."

Der britische Snobismus findet seinen Ausdruck in der folgenden Statistik: "Fisch wird in Großbritannien zumeist gebraten und paniert gegessen. 10% wird gekocht, 5% gegrillt, 3% wird gedünstet. Nur ein kleiner Teil wird roh gegessen, außer von Katzen und Besuchern japanischer Restaurants, von denen es 29 in London und eines in Milton Keynes gibt." Schließlich überrascht uns Greenaway mit einer geographischen Sensation: "Ein Kanal verbindet den Fluß Severn mit der Themse - somit ist England in zwei große Inseln aufgespalten. Das gleiche gilt für Schottland, wo der Schottlandkanal Inverness und Fort William verbindet."

Natürlich hat auch die Vogelkunde Einzug in The Coustline gefunden: "Die Briten geben vier Millionen Pfund jährlich für Vogelbeobachtungen aus - mehr als jede andere Nation. Ohne Frage eine Kompensation dafür, auf einer Insel zu leben und nicht fliegen zu können."



© 1996 Aug 12 EMAF / emaf@bionic.zerberus.de


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