U-matic, 62:34, col., USA/Österreich 1992/93, Regie: Paul McCarthy, Mike
Kelley. Kamera: Peter Kasperak. Montage: Clemens Böhm. Ton: Ferdinand
Cibulka. Darsteller: Paul McCarthey, Mike Kelley, Tim Martin
Die Zahl der Berichte über den sexuellen Mißbrauch von Kindern ist
in den letzten Jahren in einem Ausmaß gestiegen, daß viele bereits
anfangen, darauf mit Unglauben oder gar Heiterkeit zu reagieren. Sexueller
Mißbrauch ist aber auch keine neue Erscheinung - im Gegensatz zum
Medieninteresse, das die Sensation sucht.
Die Performancekünstler und Grafiker Paul McCarthy und Mike Kelley
stellten 1987 ein Diptychon über einen Vater her, der seinen Sohn
mißbrauchte; der Titel war Family Tyrany / Cultural Soup. Jetzt
versuchen sie, unter Verwendung eines halben Karnevalladens, die wahren
Umstände der Erfahrungen Heidis, ihres Großvaters und ihres kleinen
Freundes Peter herauszufinden.
Es ist nicht so, daß es dort Vieles gibt, über das gelacht werden
könnte - wenn das der Fall sein sollte, so wird dem Zuschauer sehr
früh das Lachen vergehen. McCarthy und Kelley lassen die Szenen so lange
laufen, bis die Perversitäten nicht mehr schockieren: sie werden etwas
Normales. Und diese Gewöhnung ist genau das, was bei einem Mißbrauch
über einen langen Zeitraum gefährlich ist. Die Opfer solcher
Schandtaten wissen nur zu genau, wovon die Rede ist.
Mike Kelley hat vorher mit Videofilmern wie Bruce und Norman Yonomoto (Kappa),
Tony Oursler (Evol) und Ericka Beckman (Blind Country) gearbeitet. Auch in
diesen Produktionen spielten Performances und anatomisch genaue Puppen eine
wichtige Rolle. Beide Videomacher sehen in Heidi eher ein
Gesamtkunstwerk als eine Videoproduktion. Dekor und Requisiten wurden zusammen
mit dem Film in der Krinzinger Galerie in Wien gezeigt, dort wurden auch die
Aufnahmen gemacht.
Kelley schreibt:
Ende 1992 gab es in der Wiener Krinzinger Galerie unter dem Namen LAX eine Show
mit Künstlern aus Los Angeles. Paul McCarthy und ich standen auf der Liste
der zu dieser Veranstaltung eingeladenen Künstler.
Wir haben eine Gemeinschaftsarbeit gemacht, die auf Johanna Spyris Roman
Heidi basierte. Unsere Arbeit bestand aus dem Szenenaufbau, einer Gruppe
von kleineren und lebensgroßen Gummipuppen sowie einem Video, das
ausschließlich an diesem Set aufgenommen wurde. Uns ging es darum, die
bruchstückhafte Beschaffenheit der Filmsprache anzusprechen, die Tatsache,
daß Filme als nahtloses Ganzes erlebt werden. In dem Video haben wir
diesen Bruch in unserer Darstellung des Schauspielers in den Vordergrund
gestellt.
In Filmen, besonders in Horrorfilmen, ist es oft nötig, skulpturelle
Platzhalter für Schauspieler zu haben. Abhängig von ihrer
Funktion können diese Doubles Teil- oder Komplettnachbildungen des
Schauspielers sein (wobei sie kleiner oder größer als dieser sind);
es ist auch möglich, daß es sie in dreidimensionaler Form
überhaupt nicht gibt. Sie sind einfach Werkzeuge bei der Herstellung der
Illusion, und sie sind nur innerhalb des filmischen Kontextes zu sehen. In
Heidi haben wir mit dieser illusionären Natur gespielt, indem wir
die Doubles und Platzhalter der Schauspieler ganz eindeutig als
Skulpturen darstellten, also eher in Form eines Puppenspiels denn als
traditioneller Film.
Paul McCarthy schreibt:
Eine Gemeinschaftsarbeit, die auf dem Roman Heidi von Johanna Spyri
basiert. Das ganze Stück bestand aus dem angefertigten Szenenaufbau, einer
Gruppe kleinerer und lebensgroßer Gummipuppen, zwei großen
Hintergrundmalereien, und einem Video, das nur an diesem Drehort aufgenommen
wurde.
Die Szene wurde im Zentrum der Galerie (Galerie Kitzinger, Wien) aufgebaut. Sie
bestand aus einer Sennhütte an einem Ende, und am anderen war die Fassade
der American Bar in Wien und ein Schlafzimmer. Der Set selbst bleibt dabei als
Skulptur gegenwärtig... Die Figuren, Requisiten und andere bei der
Produktion für den Set benutzte Dinge sind als Ganzes und als Kunstwerke
zu sehen, nicht als Ansammlung von Überbleibseln.
Unser Anliegen war es, Film- und Fernsehproduktionen zu imitieren, und den von
Brüchen charakterisierten Herstellungsprozeß eines Films in
übertriebener Form darzustellen. Es war beabsichtigt, verwickelte
Verbindungen zwischen Heidi, dem puritanischen Mythos Amerikas und Europas
sowie der Mediensicht auf Familienleben, Horrorfilme und Ornamente
herzustellen.
Der Westküsten-Künstler Mike Kelley ist eine der provokativsten
und einflußreichsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen
Kunst. Als Gegenstand einer größeren retrospektiven Ausstellung im
The Whitney Museum of American Art im Jahre 1993 gehören Performances,
Installationen und Skulpturen zu Kelleys charakteristischen Arbeitsbereichen.
In seinen Werken setzt er sich mit dem sehr sensiblen Bereich von Verlangen,
Angst und Soziopathologie im amerikanischen Alltagsleben auseinander; mit
trockenem Humor verleiht er nicht selten Kinderspielzeug, Kitsch und
Gebrauchsgegenständen einen subversiven Sinn.
Paul McCarthy ist seit über einem Jahrzehnt eine einflußreiche
Persönlichkeit in der südkalifornischen Kunstwelt und
Performance-Szene. Bei seinen Arbeiten Installationen, Video, Performance und
Film - setzt sich McCarthy mit einer oft unverschämten Theatralik
sozialkritisch ein. Indem sie die psychologischen Tiefen von Familie und
Kindheit unterminiert - durch Kitsch und Popkulturüberreste, durch
Körper und Sexualität - ist McCarthys Arbeit in einer
gewalttätigen Landschaft der Dysfunktion und des Traumas
angesiedelt.