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EUROPEAN MEDIA ART FESTIVAL · 11-15 SEPTEMBER 1996 · OSNABRÜCK

Heidi

EMAF 1994

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U-matic, 62:34, col., USA/Österreich 1992/93, Regie: Paul McCarthy, Mike Kelley. Kamera: Peter Kasperak. Montage: Clemens Böhm. Ton: Ferdinand Cibulka. Darsteller: Paul McCarthey, Mike Kelley, Tim Martin

Die Zahl der Berichte über den sexuellen Mißbrauch von Kindern ist in den letzten Jahren in einem Ausmaß gestiegen, daß viele bereits anfangen, darauf mit Unglauben oder gar Heiterkeit zu reagieren. Sexueller Mißbrauch ist aber auch keine neue Erscheinung - im Gegensatz zum Medieninteresse, das die Sensation sucht.

Die Performancekünstler und Grafiker Paul McCarthy und Mike Kelley stellten 1987 ein Diptychon über einen Vater her, der seinen Sohn mißbrauchte; der Titel war Family Tyrany / Cultural Soup. Jetzt versuchen sie, unter Verwendung eines halben Karnevalladens, die wahren Umstände der Erfahrungen Heidis, ihres Großvaters und ihres kleinen Freundes Peter herauszufinden.

Es ist nicht so, daß es dort Vieles gibt, über das gelacht werden könnte - wenn das der Fall sein sollte, so wird dem Zuschauer sehr früh das Lachen vergehen. McCarthy und Kelley lassen die Szenen so lange laufen, bis die Perversitäten nicht mehr schockieren: sie werden etwas Normales. Und diese Gewöhnung ist genau das, was bei einem Mißbrauch über einen langen Zeitraum gefährlich ist. Die Opfer solcher Schandtaten wissen nur zu genau, wovon die Rede ist.

Mike Kelley hat vorher mit Videofilmern wie Bruce und Norman Yonomoto (Kappa), Tony Oursler (Evol) und Ericka Beckman (Blind Country) gearbeitet. Auch in diesen Produktionen spielten Performances und anatomisch genaue Puppen eine wichtige Rolle. Beide Videomacher sehen in Heidi eher ein Gesamtkunstwerk als eine Videoproduktion. Dekor und Requisiten wurden zusammen mit dem Film in der Krinzinger Galerie in Wien gezeigt, dort wurden auch die Aufnahmen gemacht.

Kelley schreibt:

Ende 1992 gab es in der Wiener Krinzinger Galerie unter dem Namen LAX eine Show mit Künstlern aus Los Angeles. Paul McCarthy und ich standen auf der Liste der zu dieser Veranstaltung eingeladenen Künstler.

Wir haben eine Gemeinschaftsarbeit gemacht, die auf Johanna Spyris Roman Heidi basierte. Unsere Arbeit bestand aus dem Szenenaufbau, einer Gruppe von kleineren und lebensgroßen Gummipuppen sowie einem Video, das ausschließlich an diesem Set aufgenommen wurde. Uns ging es darum, die bruchstückhafte Beschaffenheit der Filmsprache anzusprechen, die Tatsache, daß Filme als nahtloses Ganzes erlebt werden. In dem Video haben wir diesen Bruch in unserer Darstellung des Schauspielers in den Vordergrund gestellt.

In Filmen, besonders in Horrorfilmen, ist es oft nötig, skulpturelle Platzhalter für Schauspieler zu haben. Abhängig von ihrer Funktion können diese Doubles Teil- oder Komplettnachbildungen des Schauspielers sein (wobei sie kleiner oder größer als dieser sind); es ist auch möglich, daß es sie in dreidimensionaler Form überhaupt nicht gibt. Sie sind einfach Werkzeuge bei der Herstellung der Illusion, und sie sind nur innerhalb des filmischen Kontextes zu sehen. In Heidi haben wir mit dieser illusionären Natur gespielt, indem wir die Doubles und Platzhalter der Schauspieler ganz eindeutig als Skulpturen darstellten, also eher in Form eines Puppenspiels denn als traditioneller Film.

Paul McCarthy schreibt:

Eine Gemeinschaftsarbeit, die auf dem Roman Heidi von Johanna Spyri basiert. Das ganze Stück bestand aus dem angefertigten Szenenaufbau, einer Gruppe kleinerer und lebensgroßer Gummipuppen, zwei großen Hintergrundmalereien, und einem Video, das nur an diesem Drehort aufgenommen wurde.

Die Szene wurde im Zentrum der Galerie (Galerie Kitzinger, Wien) aufgebaut. Sie bestand aus einer Sennhütte an einem Ende, und am anderen war die Fassade der American Bar in Wien und ein Schlafzimmer. Der Set selbst bleibt dabei als Skulptur gegenwärtig... Die Figuren, Requisiten und andere bei der Produktion für den Set benutzte Dinge sind als Ganzes und als Kunstwerke zu sehen, nicht als Ansammlung von Überbleibseln.

Unser Anliegen war es, Film- und Fernsehproduktionen zu imitieren, und den von Brüchen charakterisierten Herstellungsprozeß eines Films in übertriebener Form darzustellen. Es war beabsichtigt, verwickelte Verbindungen zwischen Heidi, dem puritanischen Mythos Amerikas und Europas sowie der Mediensicht auf Familienleben, Horrorfilme und Ornamente herzustellen.

Der Westküsten-Künstler Mike Kelley ist eine der provokativsten und einflußreichsten Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst. Als Gegenstand einer größeren retrospektiven Ausstellung im The Whitney Museum of American Art im Jahre 1993 gehören Performances, Installationen und Skulpturen zu Kelleys charakteristischen Arbeitsbereichen. In seinen Werken setzt er sich mit dem sehr sensiblen Bereich von Verlangen, Angst und Soziopathologie im amerikanischen Alltagsleben auseinander; mit trockenem Humor verleiht er nicht selten Kinderspielzeug, Kitsch und Gebrauchsgegenständen einen subversiven Sinn.

Paul McCarthy ist seit über einem Jahrzehnt eine einflußreiche Persönlichkeit in der südkalifornischen Kunstwelt und Performance-Szene. Bei seinen Arbeiten Installationen, Video, Performance und Film - setzt sich McCarthy mit einer oft unverschämten Theatralik sozialkritisch ein. Indem sie die psychologischen Tiefen von Familie und Kindheit unterminiert - durch Kitsch und Popkulturüberreste, durch Körper und Sexualität - ist McCarthys Arbeit in einer gewalttätigen Landschaft der Dysfunktion und des Traumas angesiedelt.



© 1996 Aug 12 EMAF / emaf@bionic.zerberus.de


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