Mit dem Anderen sprechen - Interaktivität: Ein künstlerischer
Ansatz
Simon Biggs, 1994
In den vergangenen zehn Jahren ist sehr viel Bedeutsames über das
Auftauchen und die Auswirkung neuer interaktiver Technologien wie z.B. der
Virtuellen Realität und Hypermedia usw. geschrieben
worden. Es ist jedoch überraschend wenig aus der Sicht des Künstlers
und warum Künstler möglicherweise mit interaktiven Medien arbeiten
möchte, verfaßt worden. Vieles von dem, was geschrieben wurde, ist
entweder eher unkritisch (meistens übertreibend) oder, wenn es kritisch
war, vor allem konzentriert auf allgemeine kulturelle Fragen, wie die Ethik von
virtuellem Sex oder den potentiellen Einfluß des personalisierenden
Charakters der interaktiven Medien auf die soziale Identität
(Computerspiele oder me-TV zum Beispiel).
Es ist bezeichnend, daß ein Großteil der Diskussion über neue
Technologien und ihre Auswirkungen auf kulturelle Prozesse von
Produktion/Konsum sich in hohem Maße aus der Arbeit bestimmter
post-strukturalistischer Theoretiker ableitet (vor allem Jacques Derrida).
Durch die inhärenten Charakteristika interaktiver Medien hat ihr
Auftauchen viele der Themen neu belebt, die Derrida und andere in den siebziger
Jahren beschäftigten ( The Mode of Information von Mark Poster, Polity
Press 1990 ist eine gute Einführung in die Grundthematik und über die
wichtigsten Persönlichkeiten). Jede Diskussion über die Implikationen
interaktiver Medien muß diese Punkte berücksichtigen, da viele der
subtileren und unspezifischen Fragen, die sich ergeben können, aus ihnen
ihren Initialimpuls beziehen.
In dem Aspekt seiner Arbeit, der besonders für interaktive Kulturartefakte
von Bedeutung ist, ist es Derridas Grundthese, daß der Begriff des Autors
zutiefst problematisch geworden ist (und dies vielleicht immer schon war).
Derrida argumentiert, daß der Prozeß des Lesens (Konsumierens)
eines Textes (es kann hier alles mögliche als Text angesehen werden)
genauso eine kreative Handlung und genauso wichtig bei der Formung eines Textes
ist, wie der Prozeß des Schreibens (Produzierens) desselben. Gemeint ist,
daß jede dieser Rollen des Selbsts, die sich auf den Text beziehen (Leser
/Verfasser) kulturell vorgegeben und gleichbedeutend mit der kulturellen
Existenz eines Textes sind; dies gilt auch für die Sinnbildung dieses
Textes. Die beliebteste Interpretation dieses Argumentes findet ihr Destillat
in der Aussage "Der Autor ist tot!", die dann gleich die Erwiderung hervorruft,
"Lang lebe der Autor!" Dieser neue Autor sollte dann die modernistische
Ideologie des Individualismus, wie sie sich in der Vorherrschaft des
individuellen Ausdrucks und der individuellen Weltsicht darstellte, verlassen
haben, und sie durch eine Selbst-Definition ersetzen, die bei weitem
ambivalenter war. Dieser neue Autor sollte als Gleichung oder
Zusammenfügung von Theoremen existieren, wobei die Einzelkomponenten eine
Mischung vieler Bestandteile wären. Der Begriff Autor subsumiert andere
Vorstellungen (wie z.B. Leser ), die einst in bezug auf die Definition dazu in
Opposition standen. Beide Seiten der Gleichung hoben sich auf diese Weise
gegenseitig auf. Als solche wird die Autorenschaft um den Text herum diffus,
sie wird nicht in die Tätigkeit des Schreibens eingebettet, so daß
alle oder alles, was als mit der Arbeit in Verbindung stehend betrachtet werden
kann, in einer bestimmten Autorenposition dazu gesehen wird.
Wie bereits erwähnt, lebten diese Fragen um die Autorenschaft mit der
Entwicklung der neuen interaktiven Medien wieder auf; dies gilt besonders
für das Auftauchen von Hypermedia und ihre Durchdringung der kulturellen
Produktionsindustrie (i.e. der Künste). In Ermangelung einer Definition
läßt sich Hypermedia als Oberfläche beschreiben (normalerweise
eine dynamische Software-Oberfläche auf einer Computer-Plattform) wo jeder
explizit entweder Leser oder Schreiber sein kann. Das heißt, daß
der Autor, wenn er einen Hypertext schreibt , sich vollkommen darüber
bewußt ist, daß jeder, der mit diesem Text in Berührung kommt,
jeden beliebigen Teil des Textes ergänzen, löschen oder ändern
kann. Und es heißt, daß demzufolge der Leser mehr oder weniger
Co-Autor ist und der Leseprozeß die Spur (dem Kielwasser eines
großen Schiffes ähnlich) einer nicht fixierten und offenen Arbeit
hinterläßt. In ähnlicher Weise weiß auch der Leser eines
Hypertextes, daß dessen Autorenschaft diffus und ungenau ist, und
daß die Stimme des Autors dieses Artefaktes pluralistisch,
gemeinschaftlich und dezentral ist.
Neben den Möglichkeiten für neue Ansätze, die aus der unklaren
Autorendefinition entstehen, gibt es eine weitere: die Art und Weise, in der
unerwartete und unvorhergesehene Materialverbindungen durch die aktive
Intervention des Zuschauers zustande kommen. Bei Arbeiten, wo die verschiedenen
Elemente durch den Leser/Schreiber neu arrangiert oder neu zusammengefügt
werden, gibt es ein enormes Potential für das Unerwartete; wo die
letztlich begrenzte Vorstellungskraft und Voraussicht des Künstlers durch
ein zweites Schreiben, durch den Zuschauer überschritten werden
können. Bei dieser Arbeit läßt sich die Palette der
möglichen Sinnfindungen erweitern; dabei wird der Charakter des Artefaktes
bereichert und vom Betrachter eine aktive Rolle gefordert, die ihn tiefer in
die Arbeit führt. Abgesehen von theoretischen Fragen über den Wert
und den Ort der Verfasserschaft können solche Strategien dazu dienen, das
Erleben einer Arbeit zu steigern und zu fördern, wobei der Betrachter in
die Hyper-Realität des imaginären Raumes eines Stückes
eingebunden wird. Darauf und auf den Gesamterlebnis -Charakter des Werkes
für den Zuschauer bezieht sich die virtuelle Realität. Gesamt
deshalb, weil der Zuschauer sich mit seinen Sinnen vollständig in ein Werk
versinkt, in dem die kompositionellen Teile auf die Aktionen des Zuschauers
reagieren können. Dies erhöht die Empfindung der
(Hyper-)Realität weiter und führt wahrscheinlich zum Zusammenbruch
des Unterscheidens zwischen dem erlebten Realen und dem Repräsentierten.
Die Herstellung einer bestimmten Beziehung zwischen Betrachter und Sujet ist in
typischer Weise von zentraler Bedeutung für künstlerische Strategien.
Das heißt, der Künstler ist immer auf der Suche nach Methoden und
Mitteln, eine psychologische Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Werk
herzustellen, die den Betrachter in einer anderen Weise des Sehens, einer
anderen Weise des Seins einbinden kann. Sowohl Künstler als auch
Betrachter suchen das Transzendentale, den Transport in einen anderen Zustand.
Der Betrachter sucht im Erleben des Werkes danach, während der
Künstler wiederum bestrebt ist, über sein Selbst hinauszugehen und an
die Situation des Anderen (des imaginären Betrachters oder Sujets) zu
denken. Das Sujet der Arbeit ist der Nexus, um den herum sich dieser
Prozeß (und der Betrachter) dreht.
Mit der Interaktivität wird die Beschaffenheit der fließenden Form
des Sujets gesteigert. Das Sujet wird in hohem Maße zum Betrachter, da
der Künstler am Anfang des Projektes festlegen muß, wie der
Betrachter behandelt wird oder wie mit ihm, als aktivem (und aktivierendem)
Bestandteil des Werkes umgegangen wird. Bei der Initiierung einer interaktiven
Arbeit ist einer der ersten Gedanken des Künstlers wahrscheinlich "Was
wird der Betrachter wohl tun?" Dies ist der Frage gar nicht so unähnlich,
die sich der Künstler stellt, der die traditionelleren Medien nutzt: "Wer
wird der Betrachter wahrscheinlich sein?" Die Funktion der ersten Frage ist
aber nicht, die zweite zu disqualifizieren, sondern sie zu subsumieren.
(Aus: Ex Oriente Lux , Hrsg. Calin Dan, Bukarest 1994.)