(EMAF96)
EUROPEAN MEDIA ART FESTIVAL · 11-15 SEPTEMBER 1996 · OSNABRÜCK

Wahre Geschichten - Visuelle Lügen

EMAF 1994


Mit dem Anderen sprechen - Interaktivität: Ein künstlerischer Ansatz

Simon Biggs, 1994

In den vergangenen zehn Jahren ist sehr viel Bedeutsames über das Auftauchen und die Auswirkung neuer interaktiver Technologien wie z.B. der Virtuellen Realität und Hypermedia usw. geschrieben worden. Es ist jedoch überraschend wenig aus der Sicht des Künstlers und warum Künstler möglicherweise mit interaktiven Medien arbeiten möchte, verfaßt worden. Vieles von dem, was geschrieben wurde, ist entweder eher unkritisch (meistens übertreibend) oder, wenn es kritisch war, vor allem konzentriert auf allgemeine kulturelle Fragen, wie die Ethik von virtuellem Sex oder den potentiellen Einfluß des personalisierenden Charakters der interaktiven Medien auf die soziale Identität (Computerspiele oder me-TV zum Beispiel).

Es ist bezeichnend, daß ein Großteil der Diskussion über neue Technologien und ihre Auswirkungen auf kulturelle Prozesse von Produktion/Konsum sich in hohem Maße aus der Arbeit bestimmter post-strukturalistischer Theoretiker ableitet (vor allem Jacques Derrida). Durch die inhärenten Charakteristika interaktiver Medien hat ihr Auftauchen viele der Themen neu belebt, die Derrida und andere in den siebziger Jahren beschäftigten ( The Mode of Information von Mark Poster, Polity Press 1990 ist eine gute Einführung in die Grundthematik und über die wichtigsten Persönlichkeiten). Jede Diskussion über die Implikationen interaktiver Medien muß diese Punkte berücksichtigen, da viele der subtileren und unspezifischen Fragen, die sich ergeben können, aus ihnen ihren Initialimpuls beziehen.

In dem Aspekt seiner Arbeit, der besonders für interaktive Kulturartefakte von Bedeutung ist, ist es Derridas Grundthese, daß der Begriff des Autors zutiefst problematisch geworden ist (und dies vielleicht immer schon war). Derrida argumentiert, daß der Prozeß des Lesens (Konsumierens) eines Textes (es kann hier alles mögliche als Text angesehen werden) genauso eine kreative Handlung und genauso wichtig bei der Formung eines Textes ist, wie der Prozeß des Schreibens (Produzierens) desselben. Gemeint ist, daß jede dieser Rollen des Selbsts, die sich auf den Text beziehen (Leser /Verfasser) kulturell vorgegeben und gleichbedeutend mit der kulturellen Existenz eines Textes sind; dies gilt auch für die Sinnbildung dieses Textes. Die beliebteste Interpretation dieses Argumentes findet ihr Destillat in der Aussage "Der Autor ist tot!", die dann gleich die Erwiderung hervorruft, "Lang lebe der Autor!" Dieser neue Autor sollte dann die modernistische Ideologie des Individualismus, wie sie sich in der Vorherrschaft des individuellen Ausdrucks und der individuellen Weltsicht darstellte, verlassen haben, und sie durch eine Selbst-Definition ersetzen, die bei weitem ambivalenter war. Dieser neue Autor sollte als Gleichung oder Zusammenfügung von Theoremen existieren, wobei die Einzelkomponenten eine Mischung vieler Bestandteile wären. Der Begriff Autor subsumiert andere Vorstellungen (wie z.B. Leser ), die einst in bezug auf die Definition dazu in Opposition standen. Beide Seiten der Gleichung hoben sich auf diese Weise gegenseitig auf. Als solche wird die Autorenschaft um den Text herum diffus, sie wird nicht in die Tätigkeit des Schreibens eingebettet, so daß alle oder alles, was als mit der Arbeit in Verbindung stehend betrachtet werden kann, in einer bestimmten Autorenposition dazu gesehen wird.

Wie bereits erwähnt, lebten diese Fragen um die Autorenschaft mit der Entwicklung der neuen interaktiven Medien wieder auf; dies gilt besonders für das Auftauchen von Hypermedia und ihre Durchdringung der kulturellen Produktionsindustrie (i.e. der Künste). In Ermangelung einer Definition läßt sich Hypermedia als Oberfläche beschreiben (normalerweise eine dynamische Software-Oberfläche auf einer Computer-Plattform) wo jeder explizit entweder Leser oder Schreiber sein kann. Das heißt, daß der Autor, wenn er einen Hypertext schreibt , sich vollkommen darüber bewußt ist, daß jeder, der mit diesem Text in Berührung kommt, jeden beliebigen Teil des Textes ergänzen, löschen oder ändern kann. Und es heißt, daß demzufolge der Leser mehr oder weniger Co-Autor ist und der Leseprozeß die Spur (dem Kielwasser eines großen Schiffes ähnlich) einer nicht fixierten und offenen Arbeit hinterläßt. In ähnlicher Weise weiß auch der Leser eines Hypertextes, daß dessen Autorenschaft diffus und ungenau ist, und daß die Stimme des Autors dieses Artefaktes pluralistisch, gemeinschaftlich und dezentral ist.

Neben den Möglichkeiten für neue Ansätze, die aus der unklaren Autorendefinition entstehen, gibt es eine weitere: die Art und Weise, in der unerwartete und unvorhergesehene Materialverbindungen durch die aktive Intervention des Zuschauers zustande kommen. Bei Arbeiten, wo die verschiedenen Elemente durch den Leser/Schreiber neu arrangiert oder neu zusammengefügt werden, gibt es ein enormes Potential für das Unerwartete; wo die letztlich begrenzte Vorstellungskraft und Voraussicht des Künstlers durch ein zweites Schreiben, durch den Zuschauer überschritten werden können. Bei dieser Arbeit läßt sich die Palette der möglichen Sinnfindungen erweitern; dabei wird der Charakter des Artefaktes bereichert und vom Betrachter eine aktive Rolle gefordert, die ihn tiefer in die Arbeit führt. Abgesehen von theoretischen Fragen über den Wert und den Ort der Verfasserschaft können solche Strategien dazu dienen, das Erleben einer Arbeit zu steigern und zu fördern, wobei der Betrachter in die Hyper-Realität des imaginären Raumes eines Stückes eingebunden wird. Darauf und auf den Gesamterlebnis -Charakter des Werkes für den Zuschauer bezieht sich die virtuelle Realität. Gesamt deshalb, weil der Zuschauer sich mit seinen Sinnen vollständig in ein Werk versinkt, in dem die kompositionellen Teile auf die Aktionen des Zuschauers reagieren können. Dies erhöht die Empfindung der (Hyper-)Realität weiter und führt wahrscheinlich zum Zusammenbruch des Unterscheidens zwischen dem erlebten Realen und dem Repräsentierten.

Die Herstellung einer bestimmten Beziehung zwischen Betrachter und Sujet ist in typischer Weise von zentraler Bedeutung für künstlerische Strategien. Das heißt, der Künstler ist immer auf der Suche nach Methoden und Mitteln, eine psychologische Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Werk herzustellen, die den Betrachter in einer anderen Weise des Sehens, einer anderen Weise des Seins einbinden kann. Sowohl Künstler als auch Betrachter suchen das Transzendentale, den Transport in einen anderen Zustand. Der Betrachter sucht im Erleben des Werkes danach, während der Künstler wiederum bestrebt ist, über sein Selbst hinauszugehen und an die Situation des Anderen (des imaginären Betrachters oder Sujets) zu denken. Das Sujet der Arbeit ist der Nexus, um den herum sich dieser Prozeß (und der Betrachter) dreht.

Mit der Interaktivität wird die Beschaffenheit der fließenden Form des Sujets gesteigert. Das Sujet wird in hohem Maße zum Betrachter, da der Künstler am Anfang des Projektes festlegen muß, wie der Betrachter behandelt wird oder wie mit ihm, als aktivem (und aktivierendem) Bestandteil des Werkes umgegangen wird. Bei der Initiierung einer interaktiven Arbeit ist einer der ersten Gedanken des Künstlers wahrscheinlich "Was wird der Betrachter wohl tun?" Dies ist der Frage gar nicht so unähnlich, die sich der Künstler stellt, der die traditionelleren Medien nutzt: "Wer wird der Betrachter wahrscheinlich sein?" Die Funktion der ersten Frage ist aber nicht, die zweite zu disqualifizieren, sondern sie zu subsumieren.

(Aus: Ex Oriente Lux , Hrsg. Calin Dan, Bukarest 1994.)



© 1996 Aug 12 EMAF / emaf@bionic.zerberus.de


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