
Die Filmprogramme dieses Jahres zeigen zum Beispiel, wie bereits der Weg zur Arbeit abenteuerlich sein kann – ganz zu schweigen von den Mysterien eines Büros oder den Achterbahnfahrten an der Börse. Und glücklich kann sich der schätzen, der am Ende des Tages noch einen Job und Zeit für seinen Körper hat.
Die Film- und Videokommission hat seit Anfang Januar etwa 2400 Filme und Videos, die für die internationale Auswahl angemeldet wurden, in vier Etappen gesichtet. Bemerkenswert bei den Sichtungen war, dass sich viele Künstlerinnen und Künstler mit der Suche nach ihren eigenen familiären und geographischen Wurzeln und ihrer Herkunft auseinandersetzen. Die künstlerische Selbstreflektion ist dabei einer mehr sozial und gesellschaftlich differenzierten Betrachtung gewichen. Insgesamt sind viele Crossover-Arbeiten zu finden, die dokumentarische Elemente mit experimentellen und narrativen Ausdrucksformen verbinden.
Das Programm »Men at work« zeigt soziale, persönliche und allgemein gesellschaftliche Konflikte. Wie die eigenen Ansprüche scheitern können, bringt die Arbeit »Resonance« von Karel De Cock aus Belgien zum Ausdruck, und in Clorinde Durands »Naufrage« gerät der ganz normale Büroalltag völlig außer Kontrolle. Mit »Femmes totales« gibt es ein Programm über Frauenbilder: über Mädchen, Mütter, Diven und Dykes, die sich im und als Bild neu erfinden. Ein Blick hinter die Kulissen des weiblichen Multitasking. Das Programm »Arts Ltd.« zeigt, dass Kunst Arbeit ist, die strukturiert werden muss – schließlich will der Künstler davon leben. Insgesamt gibt es in diesem Jahr eine starke Tendenz zum Performativen, zum spielerischen Akt und der Interpretation von narrativen Stoffen. Eine herausragende Arbeit stammt von Bea DeVisser. Sie inszeniert in »Mamma Superfreak« eine freie Adaption eines von Dario Fo geschriebenen Monologes durch die bekannte niederländische Schauspielerin Viviane De Muynck. In einem mit weißen Säcken gefüllten Lagerraum-Ambiente schwadroniert die Protagonistin stimmgewaltig über die nicht existierende Beziehung zu Mann und Kind und ihre Flucht in die Alternative des Undergrounds der Squatter und Punks, die viel mehr Familie sind als ihre eigenen Nachkommen. Im Programm »Ideologie und Agitation« vermischen sich fiktionale mit dokumentarischen Elementen.
Die documenta XI-Künstlerin Yael Bartana inszeniert in »Marie Koszmary« die Kundgebung eines Demagogen, der die Juden auffordert, nach Polen zurückzukehren. Die Satire wird erst bewusst, wenn man erfährt, dass der Agitator von dem derzeit wichtigsten polnischen Linken dargestellt wird. Viele alte Bekannte finden sich ebenfalls im Programm – wie Michael Snow, der mit »Puccini conservato« die experimentelle Bildinterpretation einer Arie wagt. Oder Corinna Schnitt, die in ihrer Arbeit »About a World« philosophische Texte von Habermas und Adorno in den Kontext eines Bildtableaus setzt. Gustav Deutsch entführt uns in »A Girl and a Gun« in die Frühzeit des Kinos, indem er Found Footage bis zum Beginn der 1930er Jahre zu einem abendfüllenden Opus strukturiert.
Sex und Crime dürfen natürlich nicht fehlen, wobei es sich in diesem Jahr aber mehr um die Kombination Sex-Gewalt-Langeweile und Abhängigkeit handelt: Kim Gok aus Korea hat mit »Exhausted« eine post-industrielle Milieustudie kreiert, die die Abhängigkeit zwischen Opfer und Täter in grobkörnigen S-8 Bildern darstellt. Ohne große Dialoge zeigt er die andere Seite des Shiny-Happy-Lifestyle des Tigerstaates Südkorea. Mit gerade 23 Jahren hat Thijs Gloger mit »Holland« eine wunderbar inszenierte Lebensstudie junger Holländer im Norden der Niederlande geschaffen, die weit weg von den Zentren der Unterhaltung und Ablenkung die Tristesse dieser bürgerlichen Alltagslangeweile in wohl komponierten Bildern darstellt.
Die Festivals »Film Experience«, Amsterdam, »L’Alternativa Independent Film Festival«, Barcelona, »Cork Film Festival«,Cork, »Festival International Signes De Nuit«, Paris und das European Media Art Festival haben sich zusammen-geschlossen, gemeinsam gegen Standards, Normen und Stereo-typen zu rebellieren. Und dafür zu werben, dass eine vielfältige audiovisuelle und cinematographische Sprache weiterentwickelt wird, die weit über die normale Kinokultur hinausgeht.
// 22. bis 25. April in der Lagerhalle
// 23. bis 25. April im Zimmertheater

Katja Albers, *1975 in Hamburg. Studium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft in Tübingen und Berlin. 1999 - 2001 Mitarbeit an Ausstellungsprojekten im Neuen Berliner Kunstverein, u.a. ›Rewind to the Future‹, Ausstellung des Video-Forums in Kooperation mit dem Bonner Kunstverein. 2003-2008 Kuratorische Assistenz im Video-Forum des Neuen Berliner Kunstverein. 2004-2006 Lehraufträge an der Universität der Künste Berlin (Experimentelle Mediengestaltung). Seit 2008 als freie Kuratorin in Dresden lebend.
Nadine Bors, * 1973, Den Haag, Niederlande, Museologin. Seit 2006 Direktorin der Media Art Friesland Stiftung. Hier organisiert sie Festivals, Events und Projekte für eine breite Öffentlichkeit. Sie war bei der Mondriaan Foundation in Amsterdam beschäftigt und hat von 1997 bis 1999 für das Niederländische Media Art Institute/ Montevideo in Amsterdam im Projekt für die Bestandssicherung und Entwicklung der Datenbank für Videokunst gearbeitet. Über dieses Thema hat sie diverse Artikel geschrieben. 2008 wurde sie als beste Unternehmerin Frieslands im Kulturbereich gewürdigt.
Katrin Mundt, Freie Kuratorin und Autorin. Projekte u.a. für den Württembergischen Kunstverein Stuttgart, die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, den Hartware Medienkunstverein/Dortmund, plug.in/Basel, Argos Centre for Art and Media/Brüssel. Ausstellungen: Weder Entweder Noch Oder (Württembergischer Kunstverein, 2008), Landschaft (Entfernung) (Württembergischer Kunstverein, 2007), Selbstorganisation (plug.in, 2006). Seit 2003 zahlreiche thematische Filmprogramme und Organisation von Expanded Cinema-Events (gemeinsam mit Mark Webber).
Ralf Sausmikat, *1956. Studium der Medienwissenschaften, 1986 Abschluss M. A. 1981 Gründung des Int. Experimentalfilm Workshop e.V. als Trägerverein des EMAF. Seit 1988 künstlerische Leitung verschiedener Sektionen des EMAF, Ausstellungen, Film, Video und Retrospektiven. Seit 1995 Fachreferent des Goethe-Institut Internationes für die Programme Experimentalfilm 80er und 90er Jahre. 2003 Kurator für ›Turbulent Screen‹ Ausstellungs- und Kinoprojekt, für das Edith-Ruß-Haus für Medienkunst, Oldenburg.